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Material zum Kapieren. »Fantasy. Was sie leistet«, nach Brian Attebery

Vorbemerkung Molo: Auf »Fantasy. How It Works« (2022) von Brian Attebery wurde ich aufmerksam durch die Video-Essays »Joseph Cambell’s Myth of the Monomyth | Part 1« (Juli 2022) und »Joseph Campbell and the N@zis | Part 2« (Oktober 2022) von Maggie Mae Fish. Über sie bin ich vor ca. drei Jahren gestolpert, als mir die youtube-Algos ihren hervorragenden Beitrag zu David Finchers »Fight Club« in die Zeitleiste spülten. Maggie gehört seitdem zu meinen liebsten youtuber*innen. Ich liebe ihre Sing-Sang-Sprechweise. Belabert und bequengelt mich hier in den Kommis, oder drüben bei Twitter oder Mastodon, damit ich mal zu Pötte komme, eine aktuelle Empfehlungsliste guter youtube-Macher*innen zu liefern.

Tom Orgel (von T. S. Orgel) bin ich zu Dank verpfllichtet. Die mutige Offenheit, mit der er seine Verständnisprobleme unter einem schnell rausgeballerten Tweet von mir mit Übersetzungsnotizen zweier Begriffs-Definition aus Atteberys Buch teilte, spornte mich zu diesem Blogeintrag an.

Ich hoffe, hier nützliches Material zum Kapieren für alle zu bieten, die sich wie ich für #ProgressivePhantastik interessieren und engagieren. Grüße in die Twitter-Bubble 😘✊.
Was ihr nun lest, ist eine zum Teil ziemlich freie, stichpunktartige Übersetzung der »Introduction: Speaking of Fantasy« von Brian Attebery. In {geschwungenen Klammern und kleiner Schrift} mache ich darauf aufmerksam, wenn ich mich selbst zur Klärung von Details in den Text einschalte. Zu den Autor*innen, mit denen sich Attebery in seinem Buch am ausführlich beschäftigt, und die in meinen Notizen nicht genannt werden, gehören Ursula K. Le Guin, J. R. R. Tolkien, C. S. Lewis und George MacDonald.
Cheers!
Euer molosovsky

Einleitung: Über Fantasy reden

Fantasy hat immer wieder mit denselben Herausforderungen zu ringen, egal wann sie geschrieben wurde:
—sich über konventionelle Auffassung dessen, was als ›realistisch‹ gilt ist hinauszubegeben;
—Zusammenhänge nachzuvollziehen, die einen Bogen um das Alltagsdenken machen;
—Lügen zu erzählen, die Wahrheit aufklingen lassen.

Das Buch beschäftigt sich mit den beiden Fragen:
1) Wie schafft Fantasy Bedeutung? — Wie kann eine Form des Geschichtenerzählens, die von den Naturgesetzen abweicht und historische Fakten zurückweist, dennoch eine Erkenntnisquelle zum Wesen des Menschen und den Lauf der Welt sein?
2) Was macht Fantasy? — Was für eine soziale, politische, kulturelle, intellektuelle Arbeit leistet Fantasy in der Welt der Leser?

Die einzelnen Aspekte eines phantastischen Weltenbaus und des phantastischen Erzählens lassen sich nicht voneinander trennen. => Mikhail Bakhtin-Konzept ›Chronotop‹: Erzählwelten, durch Geschichten aufgespannte Räume, in denen Kausalität, Figuren und Bedeutung unentwirrbar miteinander verwoben sind.

Erzählungen mit realistischen Schauplätzen und Handlungen {plots} werden stets stärker von Konventionen und Genre-Bedingungen geformt, als es den Anschein hat.

Realistische Erzählungen vom Standpunkt der Fantasy aus zu betrachten kann die Aufmerksamkeit dafür schärfen, welche Entscheidungen zur Illusion betragen, daß irgendeine Geschichte die Wirklichkeit angemessen darbietet oder wiedergibt. Bei realistischer Literatur wird viel Mühe darauf verwendet, die Konstruiertheit von Situationen und Handlungs-Mechanismen zu verbergen.

Übersicht zu den einzelnen Kapiteln

Die ersten beiden Kapitel spiegeln sich ineinander.

Kapitel eins »Wie Fantasy Bedeutung schafft. Die Gestalt der Wahrheit« fragt, inwiefern Fantasy wahr sein kann.
1) Mythisch: Durch Anleihen bei überlieferten Erzählungen, mit denen Menschen sich schon seit langer Zeit die Welt und sich selbst erklären;
2) Metaphorisch: Durch Übertragung und Verbindung von Sprachbildern;
3) Strukturell: Durch die Art, wie die einzelnen Bestandteile einer ausgedachten Welt und die in ihr angesiedelte Erzählung zum Ausdruck kommen.

Kapitel zwei »Realismus und die Struktur von Fantasy. Die Familiengeschichte« untersucht die Kunstgriffe einer Spielart des Realismus. — Ausführliche Analyse von Edward Eagers »Half Magic« (1954). Selbst Fiktionen, die möglichst realistisch sein wollen, enthalten magisches Denken und Märchen-Strukturen. Das ist kein Makel, sondern Voraussetzung zur Erzeugung eines Wirklichkeits-Effekts. 

Kapitel drei »Nachbarn, Mythen und Fantasy« handelt von den mythischen Quellen der Fantasy. — Wie stellt zeitgenössische Fantasy das Aufeinandertreffen verschiedener mythischer Systeme dar? => Helene Wecker »Golem und Dschinn« (2013).

Kapitel vier »Wenn nicht Konflikt, was dann? Metaphern für narrative Anliegen« konzentriert sich auf Erzähl-Dynamiken, die Art und Weise wie Geschichten vorangetrieben werden, und wie Aufmerksamkeit von Lesern gebunden wird.

Kapitel fünf »Eine mitochondrische Theorie der Literatur. Fantasy und Intertextualität« bietet anhand der Science Fiction und zweier Metaphern Vorschläge, um zu verstehen, wie verschiedene Texte miteinander in Beziehung treten:
1) Literatur als Lesezirkel: soziale Struktur zum Teilen von (Lese)Erfahrungen und zum Austausch von Erkenntnissen und Meinungen.
2) Mitochondrien: Texte als Körperzellen, die beim Stoffwechsel ihre Kraft von anderen Organismen beziehen, die sie in sich aufgenommen haben.

Kapitel sechs »Dystopien YANGendliche und Utopien für YINGendliche« verlegt Schwerpunkt von der Semiotik der Fantasy hin zu ihren gesellschaftlichen Funktionen. — Zur kulturellen Arbeit, die Fantasy leistet, gehört, uns zu sagen, daß die Welt nicht so bleiben muss, wie sie ist. => Mike Levy: »Teenager lieben Dystopien, weil sie in einer leben«.

Kapitel sieben »Soziales Geschlecht und Fantasy. Zur Anwendbarkeit von Märchen« behandelt Bearbeitungen von Märchen, vor allem durch männliche Autoren. — Es gibt viele Untersuchen zur Wirkung von Märchen auf Mädchen und Frauen, aber nur wenig z.B. darüber, wie Märchen dabei helfen können, um maskuline Ideale zu erforschen und zu überarbeiten. — Zeigt anhand von Beispielen bei Neil Gaiman, Michael Cunningham und H. C. Andersen, wie Märchen-Motive dazu dienen können bösartige männliche Verhaltensmuster offenzulegen und zu versuchen gutartigere Geschlechterrollenvorbilder zu entwickeln.

Kapitel acht »Die Politik der Fantasy« kehrt zur eigentlichen Fantasy zurück und geht der Frage nach, was an der Form selbst schon politisch ist. — Ist Fantasy zwangsläufig reaktionär, oder können die Verzerrungen und Umformungen der Welt durch die Fantasy auch Anregungen für progressive und grundlegende {radical} Politik liefern?

Kapitel neun »Timor mortis conturbat me {Die Angst vor dem Tod bestürzt mich}. Fantasy und Angst« zeigt, wie Fantasy genutzt werden kann, um sich mit Angst und Furcht auseinanderzusetzen. — Politik und große Medienunternehmen nutzen (wieder) vermehrt Angst und Misstrauen, um Gefolgschaft und Kunden für sich zu gewinnen und gleichzuschalten. Fantasy kann dabei helfen, mit kopfloser Angst umzugehen, insbesondere bezüglich der drei heftigsten Angst- und Furcht-Auslöser: dem Unbekannten, dem Anderen und dem eigenen Tod.

Kapitel zehn »Wie Fantasy Bedeutung schafft und was sie leistet. Einige Vorschläge« liefert die in den vorherigen Kapiteln gemachten Argumente möglichst bündig und in logischer Ordnung. Attebery rät dazu, dieses Kapitel nicht zuerst zu lesen, sondern ihm durch die Kapitel auf seinem Erkundungsweg zu folgen.

Allgemeines zum Anliegen und Werdegang des Buches

Die einzelnen Kapitel entstanden (siehe Titel der Einleitung) in Form von Vorträgen und verdanken viel der Rückmeldung von, und den Gesprächen mit Zuhörern. Diese Vorträge behandelten das ganze Feld dessen, was John Clute als ›Fantastika‹ bezeichnet {Molo: in etwa ›Phantastik‹ im deutschen Sprachverständnis}, welches sich von Märchen bis hin zur utopischer Science Fiction erstreckt. Im Lauf der Jahre traten dabei die in diesem Buch behandelten beiden Hauptfragen hervor.

Die erste Frage erinnert an »How Does a Poem Mean« (1953) von John Ciardi. Anders als bei Gedichten — bei denen versucht wird, ›Bedeutung‹ durch Interpretation, Übersetzung der poetischen Sprache in eine sachlich-erklärende, weniger kraftvolle Sprache zu ermitteln — liegt bei Fantasy das Problem weniger bei Interpretation, als vielmehr bei Anwendbarkeit. Wie sollen denn unwirkliche Welten tatsächliche Erfahrungen darstellen können? Attbery versteht Missachtung von (Wirklickeits)Bezug {reference}, Sachlichkeit {relevance} und Realismus der Fantasy deshalb als Einladung zum unkonventionellem, symbolischem und strukturellem Denken.

Zweite Frage ist schlichtweg von Jane Tompkins»Sensentional Designs: The Cultural Work of American Fiction, 1790-1850« (1986) geklaut, durch die Attebery zum ersten Mal auf Konzept aufmerksam wurde, daß Literatur kulturelle Arbeit leistet, indem sie in konkreten historischen Bedingungen einer Gesellschaft dabei hilft, über sich selbst nachzudenken; bestimmte Aspekte sozialer Wirklichkeit zu benennen, die Autor und Leser teilen; Konflikte dramatisch darzustellen und Lösungsmöglichkeiten zu unterbreiten. — Fantasy geht dabei indirekter, versteckter und spielerischer vor und läuft quer zur strengen Ernsthaftigkeit mit denen wir uns sonst z.B. mit Liebe, Autoritäten oder dem Göttlichen befassen.

Attbery ist sich bewusst, daß er mit seinen Thesen zur Fantasy Behauptungen über etwas aufstellt, für das viele Menschen eine große Leidenschaft teilen, von Vorlesungssälen und Klassenzimmern, bis hin zu Rollenspiel-Runden und Internet-Diskussionen, etwas, worüber diese Menschen oft umfangreiche Kenntnisse haben. Wenn man diesen Menschen ihre Bedeutung nicht absprechen will, muss man anerkennen, daß Fantasy etwas Bedeutsames ist.

Ältere Auseinandersetzungen mit Fantasy {Molo: hier allgemeiner als ›wundersame Erzählungen‹ also näher an der allgemeinen Bedeutung von ›Phantastik‹ zu verstehen} sind oft von apologetischen, sich um Rechtfertigung bemühenden Tendenzen geprägt. Unter dem herrschenden Zeitgeist, wo Politiker, Karriereberater und Erbsenzähler den Wert der Geisteswissenschaften als Ganzes, und jegliche Art kritischer Auseinandersetzung mit Literatur in Frage stellen, liegt es nahe, die Fantasy {Phantastik} als einen Verfechter der Geisteswissenschaften heranzuziehen.

Wir alle stammen Vorfahren ab, die sich Geschichten ausdachten, um sich die Welt und ihre eigene Stellung in ihr zu erklären. Egal ob wir mit diesen Vorfahren blutsverwandt sind oder nicht, teilen wir als narrative Amerikaner, narrative Europäer, narrative Weltbewohner eine gemeinsame kulturelle DNA, und zu den ältesten Bestandteilen dieser DNA gehört das unrealistische, phantastische Erzählen. Indem wir uns mit Fantasy beschäftigen, geben wir diese DNA weiter, und vielleicht gelingt es uns dabei, sie aufzufrischen.