Archiv für den Monat Dezember 2018

»Kanaillen-Kapitalismus« von César Rendueles

Spontan gekauft, weil mir der Titel sofort einleuchtete. Wer mit mir länger als fünf Minuten über Tatsächlichkeiten heutiger Arbeitswelten, oder das drangsalierende Verwaltetwerden der Vielen durch die Wenigen babbelt, kennt meinen Spruch: »Wir werden nicht artgerecht gehalten!«

Will man halbwegs nachvollziehen, warum der Menschenzoo des industriellen Kapitalismus so mittelprächtig eingerichtet ist, sollte man mindestens auf die letzten 30 Jahre neoliberaler Kaperung (»Take what you can. Give nothing back!«) der demokratischen Gemeinwesen, sowie Gedankenwelt-Verseuchung durch Werbung und Ausbeuter-Ideologie, besser noch auf die letzten vier- bis fünfhundert Jahre psychopathischer Aneignung und Knechtung des Globus durch heilsgeschichtlich überdrehte Glücksritter und paranoide Freimarkt-Fanatiker zurückblicken. — Der metaphorische Rückgriff auf das Schimpfwort ›Kanaille‹ erscheint mir passend, und ich mag die Umwendung der Klassen-Zuordnung. Ursprünglich wurden als ›wilde, verwahrloste Hundemeuten‹ (Franz. ›canaille‹ => Ital. ›canaglia‹ => Lat. ›canis‹ für ›Hund‹, siehe auch ›Hundsfott‹, ›Hundesohn‹ bzw. das Englische ›son of a bitch‹) herumziehende, keinem lokalen Gemeinwesen verpflichtete, zwielichtig-schurkische Menschengruppen niederen Standes bezeichnet. Für mich nicht weit hergeholt, jetzt eben die wirtschaftliche ›Mover & Shaker-Elite‹ so zu nennen, jene globetrottenden Dauertelefonierender, die stets auf der Suche sind nach Beute, die sie profitwirksam zerlegen können. Martin Scorsese hat einen verstörenden Film über diese ›Wölfe‹, deren programmatische Vordenker sich gern als ›Hütehunde des rationalen Haushaltens‹ gebärden, gedreht.

Tatsächlich bietet der 1975 geborene spanische Soziologe César Renduelesweitestgehend, denn ich glaube, bei den letzten beiden der sieben Kapitel ist ihm bei ein wenig die Puste ausgegangen — unter anderem genau zu diesem Komplex eine wendige Umdeutung der herrschenden Auslegung an, wenn er berichtet vom (1) historischen Ausnahmecharakter der allgemeinen Marktwirtschaft, (2) dem Entstehen des Arbeitsmarktes aus den grauseligen Praktiken der Sklaverei und Straflager, (3) der Struktur der politischen Konflikte im 19. Jahrhundert, (4) den Ursprüngen der für die Industrialisierung typischen Arbeitsorganisation, (5) den katastrophalen Entladungen aufgestauter Spannungen im frühen 20. Jahrhundert, (6) den Sackgassen des Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit und schließlich (7) den gegenwärtigen Anerkennungs- und Rechtfertigungs-Schwund ökonomischer und politischer Institutionen der Gegenwart, sowie sich abzeichnender möglicher Fluchtwege.

Kurz: eine Buch gewordene Granate, die geeignet ist, ein paar schöne Aussichtslücken in die von Siegern und Gewinnlern errichteten ›there is no alternative‹-Begriffs-Labyrinthe zu sprengen. Ein willkommenes Unternehmen für mich, denn

die herrschenden Klassen {haben sich im Lauf der Geschichte} immer wieder durch ihre armselige, politische Vorstellungskraft ausgezeichnet. (S. 13)

Vorstellungskraft der Herrschenden! Wie es auch bei anderen soziologischen, politischen oder geschichts- & geisteswissenschaftlichen Sachbüchern der Fall ist, begeistert mich »Kanaillen-Kapitalismus« durch eine Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit für den Themenkomplex rund um Ideenwelten, individuelle und kollektive Phantasien — kurz: für etwas, was ich seit einigen Jahren versuchsweise ›Großraumphantastik‹ nenne — an der sich z.B. Schleusenwärter der hiesigen literarischen, dramaturgischen oder überhaupt künstlerisch-feuilletonistischen Milieus ein Beispiel nehmen könnten.

Überhaupt: ich empfehle dieses Buch ausdrücklich auch als literarische Lektüre, nicht nur, wenn man die eigene holistisch-argumentative Rüstklasse gegen Apologeten einer

Geschichte der Moderne {die} in erster Linie eine Chronik der Unterwerfung des gesellschaftlichen Lebens unter Marktbeziehungen {ist} (S. 24)

hochleveln will, sondern auch, weil sich »Kanaillen-Kapitalismus« wie ein Roman lesen lässt, bzw. entsprechend allen, die selbst schreiben, zur lehrreichen Beherzigung für die Expositions-Aspekte ihres ›world-building‹ dienen kann. 

Die Kurzweiligkeit des Buches ist Dank der dreistimmigen Grundstruktur stabil genug, damit es sich leisten kann bisweilen (u.a wegen fehlendem Sach- & Personen-Index!) etwas unübersichtlich, oder sprunghaft, oder unkonventionell zu wirken. Der große Bogen der Erzählungen vom Aufstieg der freien Marktwirtschaft und des von ihr ausgehenden Unheils wird erläutert durch …

  1. (fürs Hirn) chronologisch-geschichtlichen Referaten, welche mit Leben erfüllt und veranschaulicht werden durch …
  2. (für die Phantasie) zur Epoche passenden, oder die Sachverhalte metaphorisch überhöhend-illustrierenden, literarischen Zeugnissen, wobei beides immer wieder geerdet wird durch …
  3. (fürs Herz) Rendueles’ persönliche Alltags-Erlebnisse und -Beobachtungen.

Wer gewohnt ist, dass ein Sachbuch entweder Thesen brav aufbereitet, oder eben persönlich gefärbte Reflexionen sauber abgepackt offeriert, wird sich womöglich etwas schwer tun, dem roten Faden zu folgen. Mich persönlich hat die berauschende Vielfalt an einleuchtenden Fundstellen, geschickten Verknüpfungen und sich daraus ergebender ›Ah-Ha!‹-Momente nicht gestört. Im Gegenteil: Viele Sachbücher (oder Kritiken) nerven oder öden mich an, wenn Verfasser dem weitverbreiteten Irrtum anhängen, dass Beobachtungswiedergaben, Argumente und Schlussfolgerungen eine ganz besonders seriöse Überzeugungskraft eigen sei, wenn die Autorenpersönlichkeit hinter einem stilistischen Schleier aus kühler Objektivität auf größtmögliche Distanz zum Leser bleibt. Freilich kann es angebracht sein, seine Befindlichkeit im Zaum zu halten, aber bei heftig umstrittenen Gefechten um Ideen, die Wirklichkeits- und Möglichkeitsräume nach bestimmten Kriterien formatieren wollen (oder, eine Nummer kleiner, bei der ästhetischen Bewertung von irgendwas), ist es meiner Ansicht nach nur fair, den Lesern eine zugängliche Chance zu geben, nachvollziehen zu können, wodurch das jeweilige Denken und Empfinden und damit der Standpunkt, von dem aus man schreibt, geprägt wurde.

Ganz besonders kann ich den Kameradinnen und Kameraden der (Genre-)Phantastik zurufen, dass ihnen »Kanaillen-Kapitalismus« allein schon deshalb taugen könnte, weil sich dieser ›literarische Reiseführer‹ die besondere Stärke der Genre-Phantastik, vor allem der Science Fiction — mittels (frei nach Arno Schmidt) ›längerem Gedankenspiel‹ große Bereiche des Möglichkeitsraums zu durchwandern — zu nutze macht, anhand von Texten von Frederik Pohl & C.M. Kornbluth, Ian Watson, Kim Stanley Robinson und der Gebrüder Strugatzki. Besonders hübsche Beispiele gefällig?

  • Mary Shelly (Frankensteins Kreatur als Beschreibung des Proletariats als Monster, dessen Gewalttätigkeit sozialen Ursprungs ist und das von seinem Schöpfer würdevollere Lebensbedingungen einfordert);
  • Georges Perec (dessen Dystopie »W oder die Erinnerung an die Kindheit« eine Insel-Gesellschaft schildert, in der alles konsequent und grausam den Gesetzten des erbarmungslosen Wettbewerbes untergeordnet wurde);
  • J.G. Ballard (feine Lesart seiner »Betoninsel« als moderne Robinsonade über einen, der gestrandet im Niemandswinkel eines Autobahnkreuzes seine konsumistische Selbstentfremdung überwindet).

Wer weiß: vielleicht hilft »Kanaillen-Kapitalismus« somit einigen Leuz ganz nebenbei, ihre Scheu und Skepsis gegenüber den phantastischen Modi zu überwinden.

Als Sach-Essayist versteht Rendueles es, der Verklärung der Diktatur der zweckrationalen ›Vernunft‹ durch Buchhalter, Fabrikbesitzer und Aufseher entgegenzuhalten, dass sich Menschen eben nur unter Anwendung von Zwang und Gewalt an Rhythmus und Logik von Maschinen anpassen, was soweit führt, dass die Individuen sich in ihren eigenen Körpern nicht mehr wohlfühlen, ihr Geist abstumpft. Er ist dabei so fair, einzuräumen, dass die auf Eigennutz fussende Ethik der Marktwirtschaft auf den ›Kampf aller gegen alle‹ zwar zivilisierenden, mäßigenden Einfluss ausübte. Aber die damit einhergehende ›Zertrümmerung des menschlichen Trägheitsmoments‹ durch ein Gesellschaftsverständnis, dessen hierarchische Struktur letztlich nur von der Anhäufung materieller Macht des profitmäßig Verwertbaren geprägt ist, zerfrass halt auch alle Muße und die mit ihr verbundene soziale Aufmerksamkeit der Menschen füreinander.

Als Mensch bringt sich Rendueles ein, wenn er seine eigenen Erfahrungen anführt, beispielsweise, wie schockierend für ihn die stumpfsinnige Realität der Lohnarbeit mit ihren öden, eintönigen Verrichtungen war, oder dass andererseits die für Kulturschaffende und Akademiker typische Dauer-Improvisation letztlich nur chaotisch und ermüdend ist. Besonders erquickend finde ich seine Anekdoten als Vater zweier Kinder, wenn ihn zum Beispiel Mitleid für seinen Sohn überkommt, weil dieser, wie Rendueles selbst, ein normativer Mensch ist, der sich instinktiv an Regeln halten möchte.

Jedes Mal, wenn seine kleine Schwester, die immer Quatsch machen muss, in einen Aufzug steigt, will sie den Alarmknopf drücken, und er wird, vor lauter Empörung und aus Angst vor Kontrollverlust, ganz nervös — was ich sehr gut nachvollziehen kann. (S. 87)

Eine Glanzstelle, wie er Persönliches und Lektüre-Interpretation verbindet, liefert Rendueles anhand von Jack Kerouacs »On the Road«. Als Teenager von dem Buch hellauf begeistert, weil es ihm begreifen ließ, dass

Literatur auch dazu dienen kann, bewusstseinserweiternde Erfahrungen zu machen (S. 195)

fand er es Jahre später als Erwachsender völlig unerträglich, weil er den einschläfernden Aneinanderreihungen der Umtriebe unsympathischer Alphamännchen nichts mehr abgewinnen konnte. Aber dieser scharfe Kontrast zwischen seiner jugendlichen Hingerissenheit und späterer Angekotztheit bringt Rendueles dazu, sich den Status von »On the Road« als Klassiker der Underground- und Alternativkultur zu erklären, weil Kerouac es

gelingt {…}, etwas in ein privates Gefühl subjektiver Intensität zu verwandeln, das in Wirklichkeit eine kollektive politische Niederlage par excellence darstellt. (S. 200/201)

Über den dritten Aspekt von »Kanaillen-Kapitalismus«, die findige Auswahl von literarischen Zeugnissen und ihrer erhellenden Auslegung, könnte ich im Grunde so lange abjubeln, bis ich das ganze Buch nacherzählt habe. Ich musste lachen, wie Adrian Mole aus den Büchern von Sue Townsend und Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis’ »American Psycho« von Rendueles als innige Seelenverwandte entlarvt werden, wenn beide eifrig — mal jugendlich kurzsichtig, mal als sadistisches Raubtier — der bürgerlichen Konsumismus-Beflissenheit des Warenfetischismus nachstreben. Und ich teile Rendueles’ Hymne auf den bei uns weitestgehend unbekannten Anarchisten Rafael Barrett (1876–1910), dessen längere Zitate der Übersetzer Raul Zelik für diesen edition suhrkamp-Band erst komplett ins Deutsche übertragen musste, weil es bisher eben nix von Barrett auf Deutsch gibt. Schimpft mich einen naiven Träumer und idealistischen Einfaltspinsel, aber was Barrett anhand seiner Beobachtungen der Knechtung von indigenen Arbeitern der Matepflanzungen in Paraguay, in einem Bericht aus dem Jahre 1908, schreibt, bringt mich zum Zittern, so groß und mächtig wird dabei eine mögliche Welt beschwört, würde nur mehr Geduld und Transparenz, und weniger Gier und Angst unser Zusammenleben unter der Herrschaft der Marktwirtschaft leiten:

In unserer Gesellschaft ist Arbeit in Fluch. {…} Wir haben die Arbeit vergiftet. {…} Allein die Vorstellung, dass Arbeit eines Tages Glück, Segen und Stolz bedeuten wird, wie es vielleicht früher der Fall war! Während ich diese Zeilen schreibe, spielt mein zweineinhalbjähriger Sohn. Er spielt mit Erde und Steinen, um es den Maurern nachzumachen: er spielt Arbeit. Der Gedanke, nützlich zu sein, keimt in seinem zarten Gehirn mit leuchtender Freude. Warum arbeiten die Erwachsenen nicht glücklich und spielend wie die Kinder? Arbeit muss ein göttliches Spiel sein; die Arbeit ist die Liebkosung, die der Geist der Materie zuteilwerden lässt {…}. Wir haben die Arbeit entstellt; haben die Natur zu einer Prostituierten gemacht, die dem Laster und nicht der Liebe dient {…}. Die Arbeit muss die glückliche Ausdehnung überschüssiger Kräfte sein, jugendlicher Glanz {…} eine Gefährtin der Schönheit, der Wahrheit, der heiligen Lebensfreude {…}. Heute hingegen ist die Arbeit eine Gefährtin der Verzweiflung und des Todes, gezeichnet von Erschöpfung, Kälte und Hunger, von der Verlassenheit der Machtosen, von der Verachtung gegenüber den Unschuldigen und Einfachen, vom Schrecken der zur Unwissenheit Verdammten, von der Angst derjenigen, die nicht mehr können. (S. 170/171)

Wer zu sehr schematisch-verkopft und kühl von oben herab denkt und dabei zu wenig aus von unten gemachten, eigenen körperlichen Erfahrung nachempfindet, wird sich sicherlich desöfteren in »Kanaillen-Kapitalismus« verlaufen. Dabei ist, glaub ich, der rote Faden für Letztere leicht im Auge zu behalten. Die uns eingetrichterten, verfälschenden Erinnerungen einer segensreichen Geschichte der Marktwirtschaft dürfen, ja müssen, vehement angezweifelt werden und es bedarf leidenschaftlich vorgetragener Gegenerzählungen derer, die unterjocht, ausgegrenzt und ignoriert wurden, um die verhängnisvollen Entwicklungen, in die uns der Kapitalismus mit der ihm eingeschriebenen Apokalyptik hinabzuziehen droht, korrigieren zu können. Entsprechend mündet Rendueles am Ende in folgendes Fazit:

Seit den Anfängen der Moderne besteht die Demokratie aus der Revolte der Mehrheit gegen die Gewinner des globalen Kapitalismus. Demokratie ist der politische Ausdruck der faszinierenden und immer etwas unscharfen Intuition, dass ein besseres — gerechteres, freieres und erfüllteres — Leben nur unter Gleichen möglich ist, die das ihnen Gemeinsame entdecken, transformieren und teilen. (S. 256)


César Rendueles: »Kanaillen-Kapitalismus. Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft« (Capitalismo canalla. Una historia personal del capitalismo a través de la literaura, 2015); aus dem Spanischen von Raul Zelik; Taschenbuch oder eBook, 266 Seiten; edition suhrkamp, 2018.

Jahresrückblick 2017: Games

Derzeit brüte ich über meinen Games-Kurzbesprechungen für den »Jahresrückblick 2018« (es wird geben: »Assassin’s Creed: Odyssey«, »The Council«, »Detroit: Become Human«, »Far Cry 5«, »God of War«, »Gorogoa«, »Marvel’s Spider-Man«, »Ni No Kuni 2: Revenant Kingdom«, »Red Dead Redemption 2«, »Shadow of the Colossus (HD-Remastered)« und »Takoma«) … und da halte ich es nicht für überspannt, meine Beiträge von den Rückblick auf das Jahr 2017 nun hier versammelt der werten Leserschaft zu unterbreiten. Ich empfehle drüben bei ›Polyneux‹ vorbeizuschauen, um alle Rückblicke meiner geschätzten Kolleginnen zu genießen!

Hier habe ich die einzelnen Kurzkritiken leicht überarbeitet und neu sortiert: zuerst die drei Gewinner der Gold-, Silber und Bronze-Pokale, dann alphabetisch der Rest.


»Horizon: Zero Dawn« — GOLD

Mal ideologisch aufgezogen, kann man allen hämisch giftspeienden Zweifeln, es ließe sich aus wohlmeinenden aber ach so blauäugigen Social-Justice-Warrior- und Gutmenschen-Fieberträumen keine athletisch-brazige Äktschn schustern nunmehr gelassen lächelnd damit begegnen, dass man auf »Horizon: Zero Dawn« zeigt und erwidert: »Kann man wohl, und für elegant, abwechslungsreich, anrührig, humorvoll, tragisch und episch ist sogar auch noch locker Platz im Sackerl.«

Jeder zynische Depp, der noch in traditionellen Machtfantasieschablonen der ihrem Kollaps entgegentrudelnden Zeitgenossenschaft gefangen ist, kann sich düster-bestialische Stammeskriegsgrausamkeiten einer postapokalyptisch zurückgestutzten Menschheit aus der Nase ziehen, die Kunst wahrlich erquickender Science Fiction aber speist sich aus dem (nicht spezifisch christlich formatierten, sondern ganz allgemein-vagen) evangelikalen Vermögen, zu erahnen, dass in all den bevorstehenden Leiden und Zusammenbruchs-Szenarien irgendwo auch schon Keime der guten Botschaft Hoffnung darauf harren erweckt zu werden.

Kurz: »Horizon: Zero Dawn« passt wie Deckel auf Topf zu meinem Gemüt und meiner Denke und bekommt dafür Gold.

»Everything« — SILBER

Eine der edelsten Leistungen, welche zwischen den Dingen und Subjekten befindliche und zwischen ihnen vermittelnde Menschen, Objekte und Werke (vulgo: Medien) vollbringen können, entfaltet sich hier in einer Disziplin, die in Zeiten zunehmender ideologischer Wasserscheidenbildung und pekunärer Grabenweitung, für vom Optimierungstraining für zweckrationalistische Verblendungszusammenhänge selbstentfremdeten Gepiesakten, immer schwerer gelingen will: spielerische Bewusstseinserweiterungen.

Gekoppelt mit segensreicher Entschleunigung und (abgesehen von der Jagd auf Trophäen) weitestgehender Abwesenheit von zu absolvierenden Zielen, beschenkt »Everything« als Open-World-Mandala uns mit einer kunterbunten Grabbelkiste voller Umwelten und ihrer zig Bewohner, mit denen man auf vielerlei Weise herumdoofen kann, während man Vortragsschnipsel des westlichen Zen-Vermittlungspioniers Alan Watts lauscht. Pures Glück.

»Hellblade: Senua’s Sacrifice« — BRONZE

Ich stehe vollumfänglich zu dem Resümee, dass ich im Polytalk zum Spiel gegeben habe: »Ich halte es nicht für verfehlt festzustellen, dass ›Hellblade‹ vor allem durch die Gnade der Expressivität von Frauen mehr geworden ist als ein x-beliebiger, tragisch-zorniger Grim’n’gritty-Garn«, womit ich die Leistung von Senua-Darstellerin Melina Juergens und die der Furien-Stimmen vom feminstischen Theater-Trio RashDash gewürdigt wissen wollte.

Das Kampfsystem ist ganz knapp tief genug, dass mir Button Smashing stumpfes Vergnügen bereitet. Die Rätsel sind schon abwechslungsreicher und beschäftigten mich entsprechend lustvoll. Die optische Qualität ist eh der Wahn, und die Atmo ist so wuchtig, dass mich trotz der eigentlich vorhersehbar-formelhaften Unterweltreise ein mächtiges Geschick der emotionellen Manipulation anrührte und mein Inneres zum Schwingen brachte.

Für all das und den kreativen und unternehmerischen Kraftakt von Ninja Theory, neue ›Independent-AAA‹-Wege zu wagen, gibts von von mir Silber.


Dark Souls 3: DLC — The Ringed City

Als Fantastik-Feinschmecker hat es mich zutiefst entzückt, wie sich DLC Nummero 2 The Ringed City als Abschluss eines umfangreichen Fantasy-Weltenbaus der von vielen ersehnten — und für dieses Genre sonst so typischen — linearen Klarheit heilgeschichtlicher oder apokalyptischer Epik verweigert hat, und stattdessen seinem ureigensten narrativen Groove treu blieb, indem es sein aus Lore-Infos, -Querverweisen und -Lücken gestricktes narratives Netzwerk mit nur noch mehr numinöser Kryptik ausschmückte und schimmernd mehrdeutig ausfransen lässt.

Spielerisch wird einiges bisher bei Dark Souls noch nicht Dagewesenes gereicht, und völlig kaputte Komplettismus-Zwangsneurotiker, die keinen noch so aberwitzig harten Boss unbezwungen lassen können, dürfen wonniglich an Finsterdrache Midir verzweifeln.

Uncharted: The Lost Legacy

Gemessen an der Zeit die ich seit Wochen in der Multiplayer-Suite von Uncharted: The Lost Legacy vertüdel, ist dies mit weitem Abstand mein Lieblingstitel des Jahres. Aber subjektiv-eigentümliche Shooter-Fetischismen sind ja nicht alles, ne? Klaro können auch die neuen Protagonisten-Ladies Nadine und Chloe nicht über die grundsätzliche Ausgelutschheit der Reihe hinwegtäuschen, aber die Naughty Dog-typischen Tugenden schaffen es zumindest bei mir, die bellenden Hunde scharfer Kritik in den Schlaf zu kraulen. Und versteckt als Kletter- und geduldig-nix-tun-Trophäe gibt’s den (für mich) besten animierten Bildschirmschoner aller Zeit seit ever!

Wolfenstein II: The New Colossus

Bei keinem Spiel habe ich 2017 so oft frustriert geflucht, wie bei »Wolfenstein II: The New Colossus«, denn ich wollte meinen ersten Durchgang mit Schleich-Kill-Taktik absolvieren, hab aber immer wieder vor den Latz geknallt bekommen, dass Gegner-KI und (bis auf wenige Ausnahmen) Level Design gar nicht dafür ausgelegt sind. Dann gibt es enttäuschenderweise im Gegensatz zum Vorgänger statt richtigen, einzigartigen Boss-Kämpfen lediglich Arenen mit ganz besonders umfangreichen Wellen an Standard-Gegnern, und der große Bogen der Erzählung zerfasert erstaunlich unrund.

Trotzdem bin ich diesem eigensinnigen Spiel mit Haut und Haar verfallen, weil es (wie schon »Wolfenstein: The New Order«) für ein Blutrauschballerbumspiel charmant viel Hirn und Herz mit pulpig-brachialer Chuzpe bietet, und es unterm Strich, gemessen an meinen Frustmomenten, viel mehr Gelegenheit für mich gab zu staunen, zu schmunzeln, enthusiasmiert „WTF?!“ zu rufen, Becker-Faust zu machen, triumphal zu grölen, Kloß im Hals und feuchte Augen zu haben. Ich freu mich schon auf die DLCs und den hoffentlich wieder mit etwas mehr Gameplay-Sorgfalt versehenen Trilogie-Abschluss.

Burnout-Link-Tipps — #5

Fünfte und letzte Lieferung der (fast) täglichen kulturellen Link-Bonbons, die mir Freude machen und Kraft spenden und die ich seit meinem Burnout-Zwischenfall mit ›meinen Leuten‹ in einer kleinen Privatmitteilungs-Gruppe bei Twitter teile.

Ab Montag den 17. Dez. bin ich wieder uff der Arbeit und werde nicht mehr so viel Zeit und Musenkraft haben Link-Tipps zu zu teilen, bzw. hier in so langen Sammelbeiträgen aufzubereiten.

Aber ich strebe an, die kurzen Link-, Kultur- und Gott-und-die-Welt-Tipps, die ich bisher hier rausgeballert habe als einzelne Häppchen für ›molochronik reloaded‹ anzubieten.


Freitag, 07. Dez.: Einigen von euch ist ja bekannt, dass ich die Filme von Denis Villeneuve sehr verehre. Bin bei ‘nem Netzstreifzug zufällig in »Prisoners« (2013) reingestolpert und fand den vom Fleck weg gigantisch (war nebenbei auch mein erster Kontakt mit der wundervollen Musik des leider viel zu früh verstorbenen ›Drone Music‹-Meisters Johann Johannsson). Ich war angetan, wie hier mit ruhiger Hand enorm fett Atmosphäre aufgeladen wird, sachte, dem Publikum zutrauend, Geduld und Lust am Beobachten zu haben (statt sich ›nur‹ berieseln zu lassen von Spektakel-Wuchtigkeiten). Hab dann »Die Frau die singt – Incendies« (2010, nach einem Theaterstück von Wajdi Mouawad; bis heut mein Lieblingsfilm von Villeneuve) nachgeholt, dann »Enemy« (2013 für mich sein schwächster Flick, aber dennoch ein köstliches Bon-Bon für Freunde der verstörend-rätselhaften ›Magischer Realismus‹-Phantastik), »Polytechnique« (2009, Tipp: liegt als Bonus-DVD der Sonderedition von »Enemy« bei) und schließlich »Sicario« (2013, mein erster Villeneuve im Kino).

Ich war sehr nervös, wie Villeneuve wohl »The Story of Your Life« von Ted Chiang (als Übersetzter kenne und schätze ich Geschichte nur zu gut) adaptieren würde: »Arrival« (2016, bin zufrieden damit, wie der knifflige Erzählknoten gelöst wurde) fügt sich neben den Arbeiten von z.B. Alex Garland (»Ex Machina« & »Annihilation«) oder Brit Marling (»Another Earth«, »The East« & der Netflix-Serie »The OA«) zu einem kleinen aber feinen Kanon zeitgenössischer, bewundernswert engagierter, poetischer Science Fiction-Film-Gemmen. Letztens habe ich einem Hausbesuch »Blade Runner 2049« (2017) vorgeführt — für mich einer der seltenen Fälle, wo ‘ne Fortsetzung um Klassen besser ist als das Original. Ich hab ihn zum sechsten, der Gast zum ersten mal gesehen und ich war baff, wieviel ich immer noch aus diesem Film schöpfen kann.

An die älteren franko-kanadischen Sachen von Villeneuve kommt man hier in Europa leider nicht rann, obwohl einige davon bei uns sogar im öffentlichen-rechtlichen Fernsehen versendet wurden. Als nächstes stehen ja zwei Teile »Dune«-Verfilmung nach dem SF-Klassiker von Frank Herbert an. — Hier als Kostprobe des Könnens von Denis Villeneuve »Next Floor«, ein Musterbeispiel, wie man wirklich ›spooky shit‹ in eine aufrüttelnd komische Grotesque verwandeln kann:


Samstag, 08. Dez.: Heutiger Tipp ist wieder ernster (bietet imho dennoch einige Gelegenheiten zum Schmunzeln). Als ich noch mehr Eierschalenreste hinter den Ohren hatte, war ich für so Leuz wie Rüdiger ›ich mach schon mal den Wein auf‹ Safranski, Peter ›die männliche Antje der Befund-Philosophie‹ Sloterdjik oder (um den geht’s) Norbert Bolz noch geduldiger und empfänglicher … oder sind diese Herren im Lauf des neuen Jahrtausends einfach rapide dööferer, ängstlicher, eitler kurz: unvernünftiger geworden? Damals hab ich noch Magazine wie »Cicero« gelesen ohne sofort zu meinem Revolver zu greifen und zitierte sogar Texte von Norbert Bolz ausführlicher in meinem Blog: »Lesende Weltwanderer« (gutes Beispiel, warum ich ein unentspanntes Verhältnis zu meiner Schreibe hab).

Mittlerweile scheint Bolz die Welt des zivilen Sprechens und unaufgeregten Denkens weitestgehend abhanden gekommen zu sein und er hat sich merklich radikalisiert. Aus einem, der mal liberal-konservativ originell war, wurde jemand, der eifrig ein Spektrum irgendwo zwischen elitär-populistisch bis krypto-völkisch bedient. Wie sich wo ein Wandel vollzieht, haben Autor Wolfgang Ulrich (auf Twitter: ) und Kunsttheoretiker Jörg Schaller (auf Twitter: ) in einem langen, und wie ich finde, sehr fein geschriebenen und dargelegten Analyse-Gespräch zu Bolz’ twitter-Texten bei »Pop-Zeitschrift Kultur & Kritik« unter dem zum Niederknien schönen Titel »Im Stahlgezwitscher« besprochen.


Sonntag, 09. Dez.: Ich absolviere ja (Dank der Mediathek der Stadtbücherei Frankfurt) dieser Tage eine Erst- bzw. Wiedersichtung von »Games of Thrones« (is’n Thema für sich) und jedesmal, wenn bei den fast durchwegs hörenswerten Audio-Kommentaren die Mitwirkenden (verständlicherweise) über den Vorspann als »beste Main Title-Sequenz ever abjubeln, denk ich mir: »Jo, schon doll, vor allem, weil der für Zweitwelt-Fantasy so wichtige geographische Orientierungs-Service geleistet wird, aber nicht so hübsch, wie z.B. einer der schönsten Vorspanne (Vorspänner? Vorspanni?) der letzten Jahre: dem zur Piraten-Äktschn-Soap ›Black Sails‹«.

Die Serie selbst find ich nicht so knorke und hab entsprechend anfangs nur zwei, drei Folgen weit reingeguckt. Aber das als Elfenbeinskulptur gestaltete Seeräuber-Panorama im Verbund mit der fetzigen Metal-Folk-Mukke von Bear McCreary löst bei mir stets Gänsehaut aus. Der Serie geb ich vielleicht noch mal ‘ne Chance, wenn sie bei einem der Streaming-Anbieter, bei denen ich Kunde bin, für umme angeboten wird.

Hier nun ein feiner Artikel bei »The Art of the Title«, wo die vielen Einflüsse besprochen werden. Ich hab mir beim Gucken der ersten »Black Sails«-Folge ja sofort gedacht: »Das ist voll vom Neo-Barock-Meister Kris Kuksi geklaut!«, einem komplett Irren bildnerischen Collage-Künstler, den ich vor Jahren über das Blog »This Is Colossal« entdeckt habe. — Für die Star Wars-Freunde unter euch, hier ein Beispiel für Kuksi’s Humor: »Imperial Rights Fighter«.


Montag, 10. Dez.: Heutiger Tipp des Tages hat mich dazu verleitet, spaßeshalber mal zu vergleichen, wie es in den verschiedenen europäischen Wikis um den Film »Der König und der Vogel« (1979) von Jacques Prévert und Paul Grimault bestellt ist.

Trostpflaster: es gibt den Film in seiner restaurierten Fassung billig auf DVD oder bei Amazon Prime für umme. Wer »Der König und der Vogel« nicht kennt, sei herzlich dazu ermuntert, ihn nachzuholen. Ich habe den einmal Anfang der 80er als Kiddi im Dorfkino gesehen, so richtig mit Dia-Leinwand und Projektor-Geratter, zusammen mit vielleicht zehn anderen Rotznasen unter Aufsicht meiner größeren Schwester.

Erst letztes Jahr hatte ich via Amazon Prime die Gelegenheit ihn wieder mal zu gucken, und heut Abend ist er wieder dran. Unmöglich zu übertreiben, wie prägend diese Zeichentrickgemme für mich war: hat zusammen mit »Der Dunkle Kristall« (den ich damals 2-3 Jahre später sah) wesentlich dazu beigetragen, dass ich mit Mainstream-Fantasy nie wirklich warm geworden bin und stattdessen ehr die krummeren Pfade der sogenannten ›weird fiction‹-Phantastik eingeschlagen habe, für die Surrealismus, Symbolismus bis hin zu Dada einflussreicher sind, als klassische Mythen, Sagen und Heldengeschichten.

Meine Helden von Arte haben ein feines kleines Filmchen gestaltet: »5 Gründe um ›Der König und der Vogel‹ wieder zu sehen«.

Als herausragendes Exempel von dem, was ich gern ›die andere Fantasy‹ nenne, reicht der Einfluss von »Le Roi et l’Oiseau« weit in die heutige phantastische Populärkultur. An den Video-Spiel-Klassiker »Ico« hab ich auch gedacht, aber vor lauter Husch-Husch vergessen zu erwähnen. Ich Danke Rainer Sigl vom ›VideoGameTourism‹-Blog für seinen Hinweis auf den feinen Artikel »Ahnenforschung im Traumschloss« von Christof Zurschmitten. — Lass Dich umarmen, Kamerad!


Mittwoch, 12. Dez.: Ich arbeite heute an meinen Jahresbückblick-Kurzbesprechungen von Games für . Da kann jeder auch Bronze-, Silber- und Gold-Pokale vergeben und ich nutze die Gelegenheit, euch meinen Gold-Titel hier sozusagen vorab gesondert zur inniglichen Beherzigung anzuempfehlen.

Über fünf Jahre hinweg, fast im Alleingang, hat Illustrator (der sich das Game-Programmieren selbst beibrachte) Jason ›Jake‹ Roberts () an gefrickelt und herausgekommen ist ein im Grunde sehr simples und zugleich filigranes, poetisches Spiel. — Beim Versuch die quecksilbrige Natur der Wirkung von ästhetischen Reizen auf das Gemüt zu fassen neige ich bisweilen zum intermedialen Vergleich und bemühe deshalb gern mal z.B. musikalische Begriffe für Bücher, literarische für Filme, dramaturgische für Musik u.s.w.. Auf dem schier unüberschaubaren Feld der Video-Spiele gehört der Bereich der ›Game-Lyrik‹ womöglich zu den kleinsten, aber »Gorogoa« ist ein leuchtendes Beispiel für das großartige Potential dieses zarten Genres. Alles wird mit wunderschönen handgezeichneten Illustrationen ›erzählt‹, weitestgehend (auf den ersten Blick) realistisch. Die Weise, wie man hier von einem Bild ins nächste seinen Weg durch Erinnerungen finden muss, und die Art wie verschiedene Motive durch Schieben, Vergrößern und Verkleinern, Hinaus- und Hinein-Zoomen gegenübergestellt werden und sich dabei Sinn-Harmonien und Bedeutungs-Kontraste ergeben, oder wie sich plötzlich Zusammenhänge drastisch ändern können, haben mich zutiefst beeindruckt und berührt. — Leider hat das Gerät, auf dem ich »Gorogoa« gekauft habe (mein iPad mini) einen bösen Bildschirmschaden und ich kann das Spiel nicht mehr komplett sehen. Zu gerne würde ich »Gorogoa« noch ein paar mal ganz genau Notizen führend durchwandern, um haarscharf aufzupassen, was da eigentlich erzählt wird. So kann ich nur aus der Erinnerung zusammenfassen, dass es eine gänzlich überraschende Mischung aus Bildergeschichte, bewegtem Comic und Puzzle-Spiel ist, der ich ohne mit der Wimper zu zucken Gold als mein liebstes Spiel des Jahres 2018 gebe.

 

Burnout-Link-Tipps — #4

Vierte Lieferung der (fast) täglichen kulturellen Link-Bonbons, die mir Freude machen und Kraft spenden und die ich seit meinem Burnout-Zwischenfall mit ›meinen Leuten‹ in einer kleinen Privatmitteilungs-Gruppe bei Twitter teile.


Freitag, 30. Nov.: Heutiger Tipp ist mal was ganz anderes: ein Lebensmittel! — Schon vor einiger Zeit habe ich begonnen, alles an Milch-Alternativen zu verköstigen, dessen ich habhaft werden kann. Warum? Rindermilch ist (für mich) doof, weil  …

  1. image… evolutionsbiologisch (leichte Laktose-Intoleranz);
  2. … entsprechende Verdauungs-Unannehmlichkeit, die im Verbund mit einem klassischen göttlichen Leiden meinerseits bisweilen ‘ne buchstäblich beschissen-blutige Kombi ergibt;
  3. … uns Werbegedöns eingeredet hat, die Milch von der Kuh wär der Heilige Gral und ich insgesamt weg will von diesem ganzen agrar-industriellem-bio-chemisch-pharmazeutischen Vergiftung. Ich würd die ja gern gleich in die Luft sprengen, aber ich versuch’s erstmal auf die individuell-pazifischtisch-konsumistische Weise.

Hab echt alles durchprobiert, was man sich denken kann: Soya-, Mandel-, Spinnen-, aus alten Schuhsohlen recycelte Milch, imaginäre Milch … nix davon hat mir geschmeckt, oder ist leicht erwerblich, oder existiert. Die evolutionsbiologisch angeblich beste (weil der Menschenmuttermilch ähnlichste) Milch soll ja Pferdemilch sein. Aber an Pferdemilch komme ich so leicht nicht rann, erst recht nicht bei meinem kleinen REWE um die Ecke, und ich habe weder Geld noch Platz mir genug Pferde in der Bude zu halten, um selbst zu melken.

Nun hab ich aber Hafermilch von Oatly entdeckt und kann endlich wieder nicht-trockenes Müsli zum Frühstück futtern. Ich hab mit der Calcium-Variante angefangen und die schmeckt mir schon so, wie sie ist, sehr gut. Ein wenig nach Hafer (no-na!), aber für mich Zuckermäulchen süß genug, dass ich das Müsli in keinster Weise mehr mit Honig nachsüßen muss. Möglicherweise hat mich aber auch schlicht der Bann eines Kultes erwischt … wer kann sich schon sicher sein in den heutigen Zeiten (wo ist mein Alu-Mützchen).


Samstag, 01. Dez.: Für den heutigen Tipp des Tages gönne ich mir — ich, der große Nostalgie-Skeptiker — eine fette Portion Kindheits-/Jugenderinnerung. Es ist nämlich so, dass ich buchstäblich seit Jahren immer wieder mal vergeblich nach der Titelmusik einer englischen Serie aus den ¿70ern/80ern? suche. Heute wurde ich endlich fündig!

Bei uns lief die 13-teilige Serie »Brendon Chase« (1980) — nach dem gleichnamigen Jugendbuchklassiker von Denys Watkins-Pitchford aus dem Jahre 1944 — unter dem Titel »Im Schatten der Eule«. Die Musik stammt von Paul Lewis, und Flötenlegende James Galway tüdelt meisterhaft. Die Serie ist eine der vielen Wurzeln für meine Anglophilie. Im Gegensatz zu ›Ami-Scharrn‹ durfte ich die gucken.

Bei uns gibt’s die TV-Serie nur in deutscher Fassung bei Amazon Prime oder auf DVD. Es gibt aber einen youtube-Kanal mit allen 13 Folgen auf Englisch in mittelprächtiger Bildqualität. Die Serie hat mir damals sehr gut gefallen, obwohl ich nicht alle Folgen gesehen habe.


Sonntag, 02. Dez.: Gestern hab ich mich ja extrem viel im offenen Twitter herumgetrieben (war mutig, weil ich Musik für meine GutMukke-Playlist zusammengestellt habe, und meine wiedergefundene Hingabe für Musik — die mir über die letzten Jahre vollkommen verloren gegangen ist — wirkt ausgesprochen vitalisierend), und hab z.B. begeistert über die neue »Mord im Orientexpress«-Verfilmung (2017) und den Audiokommentar dazu von Regisseur/Darsteller Kenneth Brannagh abgejubelt. Gehört zu den wenigen Filmen, die ich glücklicherweise in OV im Kino sehen konnte, was sich wegen der hinreissenden Inszenierung gelohnt hat. Ich weiß, über Brannagh wird sich gern mal lustig gemacht oder man winkt ab, weil er bisweilen extrem eitel und egomanisch daherkommt, aber wer wie ich damals™ von seinem »Henry V« (1989) komplett überrumpelt wurde, oder sich mit »Peter’s Friends« (1992) vorführen ließ, wie Dramödie geht, oder einen seiner anderen guten Streifen mochte (zum Lachen: »Much Ado About Nothing« (1993); wer das Sitzfleisch hat: »Hamlet« (1996) ungekürzt und episch; ich würd gern mal wieder »In the Bleak Midwinter« (1995) sehen, aber der ist leider völlig untergegangen), oder wer ‘ne Schwäche für die Krimis von Agatha Christie hat, wird höchstwahrscheinlich seine Freude mit dem neuen »Orient Express« haben. Hier eine Vorgeschmacks-Dreiheit:

  1. eine lange Version des Film-Trailers;
  2. eine lobende Besprechung von BBC-Filmkritiker (für mich vielleicht der beste Filmkritker, wo’s gibt derzeit) Mark Kermode:
  3. und ein nettes Gespräch von Kermode mit Brannagh:

Unbedingt erwähnen muss ich auch, dass Brannagh als Regisseur/Darsteller zusammen mit Adapteur/Drehbuchautor Michael Green einen exzellenter Audiokommentar auf der DVD des Films bieten, der mich dazu anregte, mich endlich mal mehr mit Agatha Christie zu beschäftigen.


Montag, 03., Dez.: Sorry, wenn mir mir nun keine klugen einleitenden Worte mehr einfallen mögen, aber ich hatte heut einen etwas wilden Tag. — Irgendwann um 4 Uhr früh ist in meiner Straße der Strom ausgefallen wegen zwei Leitungsbrüchen. Auslöser war eine Anschlussmuffe in meinem Keller, die durch Dauer-Gedröppel ‘nen Kurzen verursachte, und ein paar Häuser weiter ist deshalb dann auch eine schlampige Anschlußverlötung durchgebrannt. Ab 8 Uhr waren dann insgesamt 3 Transporter der @Mainova mit zeitweise (ich glaub) 12 Leuten am Start, die Sache zu beheben, inkl. Kleinbagger, Gehweg 2 x aufbuddeln und Einspeisleitungsneuverlegung (Deutsch ist geil). Hat ›nur‹ bis 17 Uhr gedauert, trotz Kälte & Nieselregen. — Ich selbst verbrachte die Zeit damit, sämtliche Lebensmittel aus dem Kühl- & Eisschrank wegzufuttern (Gottseidank war ich Samstags zu faul, noch groß Vorräte aufzustocken, weil ich ja noch genug im Haus hatte) und, (weil meine Bude auch tagsüber berüchtigt dunkel ist) bei Kerzenschein Avatar-Comic zu lesen und mich bereit zu halten, den Infrakstruktur-Helden nötigenfalls die Haustür aufzumachen, falls sie doch von Kellerseite aus bosseln müssen.

Ach ja, der Tipp! Das neue Video von @Natalie Wynn. Wer sie nicht kennt, einfach mal ihrem Kanal durchstöbern. Ist alles klug, herrlich zotig, gut argumentiert, hinreissend gespielt & inszeniert und zum Teil auf genau die Art verstörend, die ich mag. Viel Spaß mit der Apokalypse, ihr Umweltfreunde:


Mittwoch, 05. Dez.: Heutiger Tipp des Tages: meine Neugierde für und deren ambitioniertes Vorhaben hat mich dazu gebracht, mich wieder den Beständen zu Medien- & Kommunikations-Theorie meiner (rumprotz!) Privatbibliothek zuzuwenden. Dabei habe ich zu meiner Freude entdeckt, dass ein Buch, das mich sehr geprägt hat, mittlerweile komplett online vorliegt. — Ich hatte 1998 das große Glück auf die Ars Electronica mitgenommen zu werden. Damaliges Thema: »Infowars« und entsprechend passend lautet der Titel von Band 2 (die Aufsatz-Sammlung) des Katalogs: »Information. Macht. Krieg.«.

Der für mein Dafürhalten beste Text stammt von Douglas Rushkoff, vielleicht manchem hierzuland noch bekannt als Teil der frühen Cyberpunk-Szene. Ich fand damals seinen Roman »Ecstasy Club« über die Rave-Szene der mittleren/späten 90er ziemlich interessant … grad weil ich mit diesem Milieu so gar nix am Hut hab. — Hier zum gehts kompletten Text von »Zwangsausübung und Gegenmaßnahmen«:

Zusammenfassung zu Beginn des Textes geht so:

Der Informationsrüstungswettlauf
Bei jedem Informationskrieg verlieren wir Menschen automatisch. Denn sobald Kommunikation zu Information wird, lebt sie nicht mehr. Wenn wir, als lebendige Wesen, eine Rolle im InfoWar annehmen, verlieren wir auch den Heimvorteil – die Verteidigungsfähigkeit, über die jede eingesessene Bevölkerung verfügt.
Wenn wir uns zu dem Glauben verleiten lassen, der Kampf um die Information sei in Wahrheit ein Kampf um die Realität, haben wir den Krieg bereits verloren.

Und diese zwei Kostproben taugen mir enorm:

So wie Liebemachen die Möglichkeit zu neuen genetischen Kombinationen eröffnet, leitet Kommunikation einen Prozeß der kulturellen Mutation ein. Wenn Gleiche miteinander kommunizieren, bleibt nichts, wie es ist. Echte Teilnahme heißt, daß man über alles reden kann.

Kostprobe 2:

Als immer mehr Menschen ihre Fernseher abdrehten und online gingen, stand die Frage für Beeinflussungsprofis fest: Wie können wir diesen Kommunikationsalptraum in ein herkömmliches, totes, kontrollierbares Massenmedium umwandeln? Der große Trick bestand darin, Kommunikation durch Information zu ersetzen.

Für mich erstaunlich und auch etwas gruselig: Die gleichen Probleme werden heute noch — 20 Jahre später — immer noch mit einer Behäbigkeit durchgekaut, als seien sie uns grad erst vor die Füße gefallen.

54 Fragen über Bücher und Literaturgeblogge

Ich bin mal voll die Sau und klaue einen Fragebogen, den die Heldinnen und Recken von »54books« (von denen ich einigen auf Twitter folge) für »mojoreads« beantwortet haben. Hab heut schon früh begonnen weiter meine Bude aufzuräumen, dann lang zu einer Wahnsinns-Compilation angezappelt und musste danach auch meinen Geist entrümpeln.


1. Was verbindet oder unterscheidet deine Rezensionen auf ›molochronik‹ & ›molochronik reloaded‹ von denen in klassischen Feuilletons?
— Ich muss mich nicht nach einer gewünschten Längenvorgabe ausrichten, kann machen, was ich will, schreiben wie ich will (oder wie es mir eben gelingt).

2. Wie entscheidest du, welche Titel du besprichst?
— Interesse, Laune, und ob ich mir den Titel leisten kann.

3. Schreibst du auch Verrisse oder schweigst du Bücher, die du nicht magst tot?
— Schreib auch Verrisse, achte aber darauf, dass ein Verriss Relevanz in sich birgt und nicht einfach nur Mießmach-Fun liefert.

4. Bekommst du ungefragt Bücher zugeschickt, wenn ja, in welchem Ausmaß?
— Höchstens als Überraschungs-Geschenk von lieben Menschen. Von Verlagen oder Agenturen unverlangt eingeschickte Bücher würde ich prinzipiell nicht besprechen.

5. Wer ist die Person, wer sind die Personen, deren Bücherempfehlungen du ohne Nachdenken annimmst?
— Ohne Nachdenken geht bei mir so wie gut gar nix. Aber es gibt eine Reihe von Leuz, deren Urteil ich vertraue.

6. Was ist dein liebstes Buch aller Zeiten?
— Möglicherweise der »The Scar« von China Miéville.

7. Was ist bislang dein Lieblingsbuch 2018?
{Guckt in seiner Goodreads-Jahresübersicht nach}: Womöglich »Kanaillien-Kapitalismus — Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft« von César Rendueles. Eine Buch gewordene Granate. Extrem gut lesbar und sehr fein holistisch gedacht und gefühlt. Bestätigt eine langfristige Grundannahme von mir, das wir nicht artgerecht gehalten werden vom Kack-Kapitalismus.

8. Was wäre dein Buchtipp für Ausgebrannte?
— Die vier klassischen Witzebild-Bände von F. K. Waechter bei Diogenes: »Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein« (1978); »Es lebe die Freihei«* (1981); »Männer auf verlorenem Posten« (1983); »Glückliche Stunde« (1986). Haben noch nie verfehlt, mich zu trösten und zum Schmunzeln zu bringen, wenn ich sehr niedergeschlagen bin.
* das fehlende ›t‹ ist kein Tippfehler.

9. Was war dein Lieblingsbuch als Kind?
— War als Kind zu unruhig um Bücher wirklich zu lesen, habe aber sehr gern im 24-bändigen großen Bertelsmann-Lexikon geblättert (12 Bände alphabethische Enzyklopädie, 12 Themen-Bände a la »Länder, Völker, Kontinente«, »Geschichte«, »Literatur«, »Technik«, »Naturwissenschaft«, »Flora und Fauna«) … vor allem wegen der Bilder, Risszeichnungen usw.

10. Dein Lieblingsbuch als Teen?
»Der Name der Rose« von Umberto Eco. Bis heut eins meiner Allzeit-Lieblingsbücher, und sicherlich der Roman, den ich am öftesten gelesen/gehört habe.

11. Was ist ein Kult-Buch, das dich kalt lässt?
— Da gibt’s einige, z.B. »On the Road« von Jack Kerouak, oder »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry.

12. Wie viele Bücher besitzt du?
— Ca. 57,4 Meter.

13. Welches ist das am schönsten gestaltete Buch, das du besitzt?
»Codex Seraphinianus« von Luigi Serafini.

14. Was ist ein Klassiker?
— Kommt darauf an, von welchen oder wessen Klassikern wir sprechen, denn es gibt Klassiker der etablierten Deutungshoheits-Priester, Klassiker der Gegenkultur, vergessene Klassiker und und und (siehe auch Frage 17). Hochtrabend angesetzt: ein Klassiker ist im besten Falle ein Werk, dass sich über seine unmittelbare Zeitgenossenschaft und Zweckgebundenheit hinaus ein gerüttelt Maß an Relevanz bewahrt hat, sei es als Zeugnis der Vorstellungskraft, der Auffassungs- und Beobachtungsgabe, der sprachlichen oder künstlerischen Artistik, des gesellschaftlichen Engagements usw.

15. Wann hast du dein erstes E-Book gelesen?
— Ich glaub, mein erstes eBook war »L. A. Noir: The Collected Stoies« mit Geschichten von Megan Abbott, Lawrence Block, Joe R. Lansdale, Joyce Carol Oates, Francine Prose, Jonathan Santlofer, Duane Swierczynski und Andrew Vachss, herausgegeben von Jonathan Santlofer und mit einer Einleitung von Charles Ardai aus dem Jahr 2011 — da hab ich das wohl auch gelesen. Wahrscheinlich das Progressivste, was der Videospiele-Entwickler Rockstar je unter die Leuz gebracht hat.

16. Was war dein prägender Verlag?
— Ohne Zweifel der Haffmans Verlag in seiner ursprünglichen Form, mit seinem ›Magazin für jede Art von Literatur‹: »Der Rabe«.

17. Glaubst du an den Kanon?
— Wiederum (siehe Frage 17) erlaube ich mir die Gegenfrage: »Wessen Kanon?«. Freilich ›glaube‹ ich daran, dass es einen Bestand bedeutender, bemerkenswerter und relevanter Werke gibt, die man gelesen haben ›sollte‹, um ein besserer Leser, Schriftsteller oder einfach nur Mensch zu werden. Aber es ist sicherlich Blödsinn, unumstößlich und für alle Zeiten fix bestimmen zu wollen, aus welchen Werken dieser Zirkel sich genau zusammensetzen sollte, denn es ist auch Rücksicht zu nehmen auf die jeweils individuelle Lektüre-Wanderung eines Lesers, und welche Bücher wann für jemanden die förderlichste Seelen-, Verstandes- und Horizont-Erweiterung zu bewirken vermögen.

18. Was ist dein Lesegetränk?
— Was grad da ist um mich sitt zu machen.

19. In welcher Haltung liest du?
— Wach. Meistens sitzend, nicht ganz so oft liegend. Ab und zu auch gehend (vor allem, aber nicht nur, bei Hörbüchern).

20. Auf welchem Gerät liest du E-Books? Mit welcher App?
— iPad, überwiegend Kindle.

21. Lösen Lesebändchen Gefühle in dir aus?
— Anerkennungswertschätzung wegen der Nützlichkeit. Verzückungen überkommen mich erst bei Büchern, die zwei Lesebändchen haben (eins für den Haupttext, eins für den Anhang-Apparat).

22. Nutzt du Bibliotheken, wenn ja, welche?
— Die Bibliotheken meiner Stadt, also seit vielen Jahren der von Frankfurt am Main. Zentrale Stadtbücherei, Unibibliothek und wenn ich sonst an was nicht rannkomme Deutsche Nationalbibliothek. Nicht zu vergessen die Bestände digitaler Bibliotheken. Beispiel gefällig?

23. Was war deine gelungenste Rezension?
— Ich hab ein unentspanntes Verhältnis zu meinen eigenen Texten, bin aber durchaus Stolz auf mein zweiteiliges Portrait »Die wilden Welten von Matt Ruff« (Werksübersicht und Interview), sowie weiterer längerer Rezensionen, die ich für »Magira – Jahrbuch zur Fantasy« von 2003 bis 2010 geschrieben habe.

24. Hattest du schon mal einen Shitstorm, wenn ja, wofür?
— Nicht, dass ich mich erinnern kann.

26. Womit verdienst du dein Geld?
— Als Sicherheitsdienstleistung-Depp der Besucherkärtchen schreibt und Schranken-Knöpfchen drückt. Derzeit in Burnout-Auszeit.

27. Beschreibe das sich wandelnde Image von Literaturblogger*innen
— Die Frage überfordert mich. Ich kann höchstens die Gelegenheit nutzen meiner Sorge darüber Ausdruck zu verleihen, dass es eingedenk der aufmerksamkeitszerstreuenden Social-Media-Gehege, Selbstvermarktungs- und Ausbeutungs-Praktiken, Wohlgeneigtheits-Abhängigkeiten und allgemeiner Blödmaschinenhaftigkeit unserer Konsum-, Wegwerf- und Unterhaltungsgesellschaft nicht leichter geworden ist, den eigenen und allgemeinen Verfall entgegenzuwirken, oder dass diese Rahmenbedingungen für nervöse Kontemplation, rabiate Toleranz und exhibitionistische Introvertiertheit — wesentlichen Vorraussetzungen für hochwertigeres, offenes und gemeinschaftliches Denken und eben auch Babbeln über Literatur — abträglich sind.

28. Schreibe unzensiert die ersten zehn Autor*innen auf, die dir einfallen
— Ich nehm welche, die ich hier bei anderen Antworten noch nicht genannt habe: Neil Gaiman, Annie E. Proulx, Philip K. Dick, Zadie Smith, Neal Stephenson, Molly Crabapple, Thomas Pynchon, Terry Pratchett, Mervyn Peake, Laurie Penny.

29. Was ist für dich 2018 bedeutender: Zugänglichkeit der Kunst oder Autonomie der Kunst?
— Das ist ’ne Fangfrage, oder? Ich beantworte sie, wenn wir die derzeitigen gesellschaftlichen Krisen und Gräben überwunden haben und sich wieder angemessene Musenhaftigkeit eingefunden hat, um sich so einer Frage wirklich ungetrübt widmen zu können.

30. Hast du schon mal mit einer Rezension einem Buch zu spürbar mehr Erfolg verholfen?
— Da ich keine Einblicke in die Verkaufszahlen von Verlagen habe, und mich nicht um Klick- und Trackback-Schmarrn kümmere, ist es mir nicht möglich diese Frage zu beantworten. Ich habe im Lauf der Jahre allerdings einige Rückmeldungen bekommen, dass ausgerechnet ich Leuz den Weg zu bestimmten Büchern gewiesen habe und sie mir zum Teil extrem dankbar dafür sind (was mich sehr durcheinander bringt, weil ich verklemmter eitler Wicht mit Minderwertigkeitskomplex gehörig Probleme mit Komplimenten habe).

31. Besprichst du zu viele männlichen Autoren?
— Welcher Mann tut das nicht? Ich bemühe mich um Besserung.

32. Verdient man beim Bloggen an irgendeiner Stelle Geld?
{lacht prustend}

33. Wie bist du zu molochronik / molochronik reloaded gekommen?
— Zur ›molochronik‹ bin ich gekommen, weil meine damalige Partnerin antville entdeckt hat, und ich ihr (wie oftmals) bei dem Klugen, Schönen und Anregenden das sie unternahm, folgte. — Zu ›molochronik reloaded‹ bin ich erst vor kurzem gekommen, als ich im Zuge eines akuten Burnouts krankgeschrieben wurde (und zum Zeitpunkt, da ich dies schreibe, immer noch bin), und seit Jahren zum ersten mal wieder meine Kreativität produktiv fließt. Da die alte Tante antville leider inzwischen eine für mich ungeeignete Bedien- und Eingabeoberfläche hat, entschied ich mich für einen Neustart bei WordPress.

34. Wer und was bereichert dich im Internet?
— Zuviel.

35. Wer und was stiehlt dir im Internet die Zeit?
— Alles.

36. Welche Funktionen muss ein Internet-Shop für Bücher und E-Books haben, um für dich als Blogger*in interessant zu sein?
— Simpel: Die Bücher liefern zu können, die mich interessieren und die ich haben will, zu einem Preis, den ich mir leisten kann.

37. Welche Funktionen muss ein soziales Netzwerk rund um Bücher und E-Books haben, um für dich als Blogger*in interessant zu sein?
— Für Consulting verlange ich Gegenleistung, also beantworte ich diese Frage erst, wenn eine entsprechende Willensbekundung vorliegt. Grober Trailer: solange der Erwerb einer solchen Plattform vornehmlich auf Werbegeldern oder monetärer Verwertung von Teilnehmer-Daten gründet, kann sie nichts taugen, sondern nur Teil einer Fabrik zur Herstellung von Stupidität, Apathie und galoppierender Ignoranz sein. Und jede Art von Social Media braucht gute, fachkundige Moderation, und die kostet entweder Geld (»Wie macht man in der Buchbranche mit ambitionierten Projekten ein kleines Vermögen? Aaalso, man nehme ein großes Vermögen …«), bzw. verlangt Selbstausbeutung. Aber vielleicht verstellt mir mein pöser Hang zum Pessimismus die Sicht.

38. Zu welchem Shop oder zu welcher stationären Buchhandlung verlinkst du aktuell, wenn du ein Buch oder E-Book besprichst?
— Gar keinen.

39. Was ist deine Lieblingsbuchhandlung?
— Vor Ort: Terminal Entertainment für Comics und Graphic Novels; Karl Marx Buchhandlung für alles andere.

40. Wo kaufst du wirklich deine Bücher und E-Books? Bitte in der Reihenfolge der Frequentierung aufzählen.
— Ich schwacher Konsum-Zombie kauf bei Amazon, allerdings nur Sachen, die sonst zu kostspielig für mich sind (beispielsweise teure Sammelbände von Comics/Graphic Novels, oder ›Art of‹– und andere Pracht-Bildbände).

41. Kommst du aus einem Lesehaushalt?
— Mein Vater ist ein klassischer lesender Arbeiter, der seit ich mich erinnern kann, Krimis, Western, Sachbücher über Natur und fremde Länder und dergleichen ließt. Meine Mutter (im Lauf der Jahrzehnte Tausendsassarin in zig unterschiedlichen Jobs und Hausfrau und Mutter/Oma ist) hat die größte Sammlung an Kochbüchern aller erdenklichen Art, die ich je gesehen habe.

42. Wenn du Verwandte unter 18 hast, lesen diese?
— Soweit ich weiß nicht. Wenn dann nur für die Ausbildung oder den Job.

43. Geschätzte Lesezeit in Stunden pro Tag?
— Im Durchschnitt um die zwei bis vier Stunden. Oftmals lese ich nebenbei, während Musik oder Dokumentationen/Audiokommentare laufen.

44. Unterscheidest du heimlich zwischen gutem Bücher- und schlechtem Social-Media-Lesen?
— Nö, ich treffe diese Unterscheidung unverblümt ganz offen.

45. Liest du genug Bücher?
— Ich lese wahrscheinlich zu viel und sollte mehr aus dem Haus und unter Leuz. Auf jeden Fall lese seit vielen Jahren mehr als gut für mich ist.

46. Hast du in den letzten Jahren Probleme, dich auf Bücher bzw. überhaupt längere Texte zu konzentrieren?
— Kommt auf die Texte an. Bei umfangreicheren Büchern mach immer schon gern mal Pausen, auch längere.

47. Auf wem oder was liegt deine literarische Hoffnung?
— Ich leb derzeit alleine, also lieg ich auf niemanden. Ich habe aber in den letzten Jahren begonnen, mich vermehrt darum zu bemühen, Autorinnen zu lesen und z.B. die oben (siehe Frage 28) genannten Frauen haben meine Lektüren ungemein bereichert. Ich bewundere es, wie die jüngste Welle feministischen Schreibens verschiedenste extrem wichtige Impulse geschickt miteinander verflicht: Frust und Wut Ausdruck verleihen, Kritik an der Kaputt- und Niederträchtigkeit der patriarchalen Weltordnung üben (unter der auch Männer leiden), sich unverzagt für eine bessre Welt einsetzen, die von den Siegern geschriebene Historie korrigieren ect. pp. ff.. Ja, all das macht mir durchaus Hoffnung.

48. Welche Literatur-Preise sind noch relevant?
— Müsst ich länger nachdenken, aber ich achte nicht wirklich auf Literatur-Preise. Oh, doch! Ich lese gerne das kurzweilige Geschnatter, zu dem sich einige geistreiche Menschen während des Klagenfurter Wettlesens hinreissen lassen.

49. Sollte man, um Autor*in zu werden, an einem Literaturinstitut studieren?
— Wenn man sich in noch größere Gefahr begeben will, sich Stil und Denke zu versauen, als dies ohnehin schon der Fall ist: Ja.

50. Welche Monetarisierungsmöglichkeit für Blogs erscheint dir am passendsten und realistischsten?
{Grinst verlegen und zuckt die Schultern}

51. Gibt es Kontexte, in denen du nicht erzählst, dass du Blogger*in bist?
— Meistens: beim Einkaufen, wenn ich in ‘nem lecker Eis-, Halal-Baguette, Thai- oder Döner-Geschäft Essen bestelle usw..

52. Die besten drei Literaturblogs außer Deinem?
— Meine Blogs sind eh nicht sooo dolle. Hier aber drei Blogs die mir einfallen, die sehr interessante Ansätze verfolgen:

  • Auch wenn nirgendwo ›Blog‹ steht, wird »The Dark Mountain Project« (@darkmtn bei Twitter), soweit ich sehe, mit einer Blog-Obertfläche (ich glaub WordPress) betrieben und lässt sich auch so lesen und sogar kommentieren. Beispielsweise die Essay-Sammlung »Rewilding the Novel« ist ungemein spannend.
  • »The Untranslated« (@TheUntranslated bei twitter) kümmert sich um Literatur, die es (noch) nicht auf Englisch gibt, und fördert damit für mich immer wieder erstaunliche Gemmen zutage (eine der wenigen Seiten im Netz, wo ich etwas Kluges über meinen vergessenen Helden Giorgio Manganelli gefunden habe). Der oder die Betreiber*in pflegt z.B. das ergiebigste, zugänglichste und beständigste mir bekannte »Zettel’s Traum«-Leseprotokoll (nach der Übersetzung von David E. Wood). Was sagt das über die deutsche Blog-Landschaft (oder meine Kenntnis derselben)? — Die Art, wie z.B die »Zettel’s Traum lesen«, oder das vom Suhrkamp Verlag selbst angestoßene »schauerfeld« kläglich im Sande versickert sind, ist ein Musterbeispiel für die Verzagtheit, Diskussions-Unfähigkeit und allgemeine Befangenheit unserer Literatur-Szene.
  • Und langfristig am treuesten bin ich »Arts & Letters Daily«, quasi einer englischsprachigen Version des Perlentauchers. Ist aber, was wohl der Größe des Sprachraums geschuldet ist, eben deutlich ergiebiger für mich, als etwaige deutsche Seiten.

53. Liest du ein Feuilleton, wenn ja, welches?
— Ich les querbeet alle möglichen Feuilletons die ich in die Bratzen bekomme. Ich lese dabei oftmals kopfschüttelnd und/oder resignativ seufzend.

54. Was versuchst du, Lesenden in deinen Texten zu vermitteln?
— Abgesehen davon, dass ich seit über 30 Jarhen an einer eklektisch-extenzischen Großraumphantastik-Philosophie bossle? Freude am Lesen und ziellosem Erkunden und wonniglichem Sich-Verirren und -Wiederfinden. Mut machen zum In-Frage-Stellen und Überschreiten und Überbrücken von vermeintlich heiligen Grenzen zwischen U und E, realistisch und phantastisch. Und nicht sauer zu sein, wegen meiner notrischen Tippfehler-Schwäche und zugegeben verquast-überspannten Denke.