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Beste Bücher 2022 #TopTenBooks2022

Einleitung: Wie schon bei #TopTenMovies2022 geht es nicht um aktuellen Kram, sondern was ich letztes Jahr genossen habe. Plätze 10 bis 4 gelistet in Lesereihenfolge, Plätze 3 bis 1 aber nach reiflicher Überlegung, was ich richtig gut gemacht, gesellschaftlich relevant und für persönliches Wohlbefinden bzw. Wachstum förderlich fand.

Vorweg: Habe 89 Bücher 2022 gelesen. Fünf mal ›honorable mentions‹
• Japan-Doppelpackung
—Joseph Kreiner (Hrsg.): »Geschichte Japans«
—Christopher Harding: »Japan Story: In Search of a Nation, 1850 to Present«
• Nicole Mayer-Ahuja & Oliver Nachtwey (Hrsg.): »Verkannte Leistungsträger:innen«
• Judith C. Vogt & Christian Vogt: »Schildmaid – Das Lied der Skaldin«
• Sarah Kendzior: »They Knew: How a Culture of Conspiracy Keeps America Complacent«
• Alessandra Reß: »Spielende Götter«

PLATZ 10 William Gibson: »The Perpherial« (Penguin, 2014)
Vor Jahren begonnen und flott fertig geschmökert, um mir von Amazon-TV-Serie Stimmung nicht vermiesen zu lassen. Dolle Therapie angesichts Zivilisatzionszusammenbruch. Fast ein Märchen.

PLATZ 9 Patricia Eckermann / @feireficia: »Elektro Krause« (Trendition, 2021)
Kein Gramm Fett, lustig, spannend, locker. Ich der Serien-Skeptiker trau mich sagen: Gerne mehr.
Doofes aber ehrlich gemeintes Komplliment: fänd doll, wenn das mit dem Geschick von z.B. »Der Tatortreiniger« fürs TV verfilmt werden würde.
Bonus: #Cannabis-Verherrlichung mit Schrottplatz-Künstlerin.

PLATZ 8 Jan Potocki: »Die Handschrift von Saragossa oder die Abenteuer in der Sierra Morena« (1810; Übersetzung: Werner Creutziger; Haffmans bei Zweitausendeins, 2000)
Klarer Fall, daß olle Klassiker von Annodunnemal gern mal zeigen, wie waghalsig aber zugänglich durchgeknallt die Romanform sein kann. Verschachtelt, elegant, abenteuerlich, wunderbar verfizzelt, sprachlich Kraft doller Übersetzung berauschend, und Dank ausführlichem Glossar lehrreich.

PLATZ 7 China Miéville: »A Spectre Haunting. On The Communist Manifesto« (Head of Zeus, 2022)
Vielleicht bester Einstieg, um sich zu orientieren, warum des ganze Kapitalismus-Kritik-Gedöns a la Marx und Engels heut noch mindestens so relevant ist wie 1848, als »Das Kommunistische Manifest« erschien.
Großartige Analyse, historische Einordnung und Anregung für jetzt, z.B. mit #LerntKlügerHassen und #LerntKlügerLieben. Spannend wie Krimi.
Sollte es auf Deutsch geben.

PLATZ 6 Bernt Engelmann: »Wir Untertanen« & »Einig gegen Recht und Freiheit« (Steidl 1974, 1975)
Super-Twitter-Empfehlung von Henscheck auf Frage, ob es sowas wie Howard Zinn »A Peoples History of the United States« auch bei uns gibt.
Lohnt sich allein schon wegen der ausführlichen Großmetaphern, wenn z.B. Dreissigjähriger Krieg runtergebrochen wird »konkurrierende Gangster-Banden bekämpfen sich in einer Großstadt«.
Macht zornig, auf die gute Art.
Vergriffen? Schande!

PLATZ 5 Sally Rooney: »Normale Menschen« (2018; Übersetzung: Zoë Beck; btb, 2021)
Realismus bietet extrem heftige Phantastik, wenn sie, wie hier, z.B. wirkmächtig zeigt, daß allein so etwas wie »Wer bin ich? Was fühle ich? Was will ich?« von Vorstellungen und Konstruktionen abhängt, erst recht, wenn das eigene Innenleben sich mit heftiger Wahrnehmung anderer Menschen mischt. Zudem von einer sprachlichen Kraft und Präzision (auch auf Deutsch), wie ich sie selten erlebe.

PLATZ 4 Mariana Enríquez: »Was wir im Feuer verloren« (2016; Übersetzung: Kristen Brandt; Ullstein, 2017)
Seit Burnout 2018 wurde guter, nennt es ruhig #ElevatedHorror, wieder wichtiger für mich. Fühle mich verstanden und getröstet von Alpträumen. Die zwölf Geschichten dieser Sammlung bringen das Unheimliche und Monströse unserer Zeit gekonnt an’s Licht. Enthält sogar eine waschechte Cthulhu-Mythos-Story. Freu mich schon sehr auf baldige Lektüre von Enriquez’s fetten Roman.

BRONZE — PLATZ 3 Doppelpack Brian Attebery: »Stories About Stories« / »How Fantasy Works« (Oxford University Press, 2013, 2022)
Entdeckt über goiles Joseph-Campbell-#Monomythos-Bashing von Maggie Mae Fish bei youtube.
Pflichtlektüre für alle, die sich für #ProgressivePhantastik interessieren oder damit zu tun haben (wollen).
Sollte es auf Deutsch geben. Würd ich gern übersetzen; siehe meine »#Fantasy. Was sie leistet«-Notizen.

SILBER — PLATZ 2 Wu Ming: »54« (2002; Übersetzung: Klaus-Peter Arnold; Assoziation A, 2015)
Mit nix sonst derart umfängliche Gaudi beim Lesen erlebt dieses Jahr: gelacht, gejohlt, geseufzt, geweint, gestaunt. Süffig, berührend, haarsträubend, ulkig, empörend, zart, hart, spannend, clever, elegant, ruppig. Großes Kompliment für Übersetzung von Klaus-Peter Arnold.
SOWAS, aber als Fantasy, quasi Spaghetti Fantasy, würd ich gern zustandebringen.

GOLD — PLATZ 1 Émile Bravo: »Spirou & Fantasio Spezial Nr. 8: Portrait des Helden als junger Tor« und »Spirou oder: Die Hoffnung 1-4« (2008, 2018-2022; Übersetzung: Ulrich Pröfrock; Carlsen Comics, 2009, 2018-2022)
Dank Hinweis-Tröt von Genosse Frank Böhmert geschnallt, daß es zu »Held als junger Tor« noch 4-teilige Fortsetzung gibt. Émile Bravo ist wahrhaft ein Zauberer der Menschlichkeit angesichts finsterer Themen … für Kinder!
Geschichtenerzähler:innen, lernt von diesem Comic!

Material zum Kapieren. »Fantasy. Was sie leistet«, nach Brian Attebery

Vorbemerkung Molo: Auf »Fantasy. How It Works« (2022) von Brian Attebery wurde ich aufmerksam durch die Video-Essays »Joseph Cambell’s Myth of the Monomyth | Part 1« (Juli 2022) und »Joseph Campbell and the N@zis | Part 2« (Oktober 2022) von Maggie Mae Fish. Über sie bin ich vor ca. drei Jahren gestolpert, als mir die youtube-Algos ihren hervorragenden Beitrag zu David Finchers »Fight Club« in die Zeitleiste spülten. Maggie gehört seitdem zu meinen liebsten youtuber*innen. Ich liebe ihre Sing-Sang-Sprechweise. Belabert und bequengelt mich hier in den Kommis, oder drüben bei Twitter oder Mastodon, damit ich mal zu Pötte komme, eine aktuelle Empfehlungsliste guter youtube-Macher*innen zu liefern.

Tom Orgel (von T. S. Orgel) bin ich zu Dank verpfllichtet. Die mutige Offenheit, mit der er seine Verständnisprobleme unter einem schnell rausgeballerten Tweet von mir mit Übersetzungsnotizen zweier Begriffs-Definition aus Atteberys Buch teilte, spornte mich zu diesem Blogeintrag an.

Ich hoffe, hier nützliches Material zum Kapieren für alle zu bieten, die sich wie ich für #ProgressivePhantastik interessieren und engagieren. Grüße in die Twitter-Bubble 😘✊.
Was ihr nun lest, ist eine zum Teil ziemlich freie, stichpunktartige Übersetzung der »Introduction: Speaking of Fantasy« von Brian Attebery. In {geschwungenen Klammern und kleiner Schrift} mache ich darauf aufmerksam, wenn ich mich selbst zur Klärung von Details in den Text einschalte. Zu den Autor*innen, mit denen sich Attebery in seinem Buch am ausführlich beschäftigt, und die in meinen Notizen nicht genannt werden, gehören Ursula K. Le Guin, J. R. R. Tolkien, C. S. Lewis und George MacDonald.
Cheers!
Euer molosovsky

Einleitung: Über Fantasy reden

Fantasy hat immer wieder mit denselben Herausforderungen zu ringen, egal wann sie geschrieben wurde:
—sich über konventionelle Auffassung dessen, was als ›realistisch‹ gilt ist hinauszubegeben;
—Zusammenhänge nachzuvollziehen, die einen Bogen um das Alltagsdenken machen;
—Lügen zu erzählen, die Wahrheit aufklingen lassen.

Das Buch beschäftigt sich mit den beiden Fragen:
1) Wie schafft Fantasy Bedeutung? — Wie kann eine Form des Geschichtenerzählens, die von den Naturgesetzen abweicht und historische Fakten zurückweist, dennoch eine Erkenntnisquelle zum Wesen des Menschen und den Lauf der Welt sein?
2) Was macht Fantasy? — Was für eine soziale, politische, kulturelle, intellektuelle Arbeit leistet Fantasy in der Welt der Leser?

Die einzelnen Aspekte eines phantastischen Weltenbaus und des phantastischen Erzählens lassen sich nicht voneinander trennen. => Mikhail Bakhtin-Konzept ›Chronotop‹: Erzählwelten, durch Geschichten aufgespannte Räume, in denen Kausalität, Figuren und Bedeutung unentwirrbar miteinander verwoben sind.

Erzählungen mit realistischen Schauplätzen und Handlungen {plots} werden stets stärker von Konventionen und Genre-Bedingungen geformt, als es den Anschein hat.

Realistische Erzählungen vom Standpunkt der Fantasy aus zu betrachten kann die Aufmerksamkeit dafür schärfen, welche Entscheidungen zur Illusion betragen, daß irgendeine Geschichte die Wirklichkeit angemessen darbietet oder wiedergibt. Bei realistischer Literatur wird viel Mühe darauf verwendet, die Konstruiertheit von Situationen und Handlungs-Mechanismen zu verbergen.

Übersicht zu den einzelnen Kapiteln

Die ersten beiden Kapitel spiegeln sich ineinander.

Kapitel eins »Wie Fantasy Bedeutung schafft. Die Gestalt der Wahrheit« fragt, inwiefern Fantasy wahr sein kann.
1) Mythisch: Durch Anleihen bei überlieferten Erzählungen, mit denen Menschen sich schon seit langer Zeit die Welt und sich selbst erklären;
2) Metaphorisch: Durch Übertragung und Verbindung von Sprachbildern;
3) Strukturell: Durch die Art, wie die einzelnen Bestandteile einer ausgedachten Welt und die in ihr angesiedelte Erzählung zum Ausdruck kommen.

Kapitel zwei »Realismus und die Struktur von Fantasy. Die Familiengeschichte« untersucht die Kunstgriffe einer Spielart des Realismus. — Ausführliche Analyse von Edward Eagers »Half Magic« (1954). Selbst Fiktionen, die möglichst realistisch sein wollen, enthalten magisches Denken und Märchen-Strukturen. Das ist kein Makel, sondern Voraussetzung zur Erzeugung eines Wirklichkeits-Effekts. 

Kapitel drei »Nachbarn, Mythen und Fantasy« handelt von den mythischen Quellen der Fantasy. — Wie stellt zeitgenössische Fantasy das Aufeinandertreffen verschiedener mythischer Systeme dar? => Helene Wecker »Golem und Dschinn« (2013).

Kapitel vier »Wenn nicht Konflikt, was dann? Metaphern für narrative Anliegen« konzentriert sich auf Erzähl-Dynamiken, die Art und Weise wie Geschichten vorangetrieben werden, und wie Aufmerksamkeit von Lesern gebunden wird.

Kapitel fünf »Eine mitochondrische Theorie der Literatur. Fantasy und Intertextualität« bietet anhand der Science Fiction und zweier Metaphern Vorschläge, um zu verstehen, wie verschiedene Texte miteinander in Beziehung treten:
1) Literatur als Lesezirkel: soziale Struktur zum Teilen von (Lese)Erfahrungen und zum Austausch von Erkenntnissen und Meinungen.
2) Mitochondrien: Texte als Körperzellen, die beim Stoffwechsel ihre Kraft von anderen Organismen beziehen, die sie in sich aufgenommen haben.

Kapitel sechs »Dystopien YANGendliche und Utopien für YINGendliche« verlegt Schwerpunkt von der Semiotik der Fantasy hin zu ihren gesellschaftlichen Funktionen. — Zur kulturellen Arbeit, die Fantasy leistet, gehört, uns zu sagen, daß die Welt nicht so bleiben muss, wie sie ist. => Mike Levy: »Teenager lieben Dystopien, weil sie in einer leben«.

Kapitel sieben »Soziales Geschlecht und Fantasy. Zur Anwendbarkeit von Märchen« behandelt Bearbeitungen von Märchen, vor allem durch männliche Autoren. — Es gibt viele Untersuchen zur Wirkung von Märchen auf Mädchen und Frauen, aber nur wenig z.B. darüber, wie Märchen dabei helfen können, um maskuline Ideale zu erforschen und zu überarbeiten. — Zeigt anhand von Beispielen bei Neil Gaiman, Michael Cunningham und H. C. Andersen, wie Märchen-Motive dazu dienen können bösartige männliche Verhaltensmuster offenzulegen und zu versuchen gutartigere Geschlechterrollenvorbilder zu entwickeln.

Kapitel acht »Die Politik der Fantasy« kehrt zur eigentlichen Fantasy zurück und geht der Frage nach, was an der Form selbst schon politisch ist. — Ist Fantasy zwangsläufig reaktionär, oder können die Verzerrungen und Umformungen der Welt durch die Fantasy auch Anregungen für progressive und grundlegende {radical} Politik liefern?

Kapitel neun »Timor mortis conturbat me {Die Angst vor dem Tod bestürzt mich}. Fantasy und Angst« zeigt, wie Fantasy genutzt werden kann, um sich mit Angst und Furcht auseinanderzusetzen. — Politik und große Medienunternehmen nutzen (wieder) vermehrt Angst und Misstrauen, um Gefolgschaft und Kunden für sich zu gewinnen und gleichzuschalten. Fantasy kann dabei helfen, mit kopfloser Angst umzugehen, insbesondere bezüglich der drei heftigsten Angst- und Furcht-Auslöser: dem Unbekannten, dem Anderen und dem eigenen Tod.

Kapitel zehn »Wie Fantasy Bedeutung schafft und was sie leistet. Einige Vorschläge« liefert die in den vorherigen Kapiteln gemachten Argumente möglichst bündig und in logischer Ordnung. Attebery rät dazu, dieses Kapitel nicht zuerst zu lesen, sondern ihm durch die Kapitel auf seinem Erkundungsweg zu folgen.

Allgemeines zum Anliegen und Werdegang des Buches

Die einzelnen Kapitel entstanden (siehe Titel der Einleitung) in Form von Vorträgen und verdanken viel der Rückmeldung von, und den Gesprächen mit Zuhörern. Diese Vorträge behandelten das ganze Feld dessen, was John Clute als ›Fantastika‹ bezeichnet {Molo: in etwa ›Phantastik‹ im deutschen Sprachverständnis}, welches sich von Märchen bis hin zur utopischer Science Fiction erstreckt. Im Lauf der Jahre traten dabei die in diesem Buch behandelten beiden Hauptfragen hervor.

Die erste Frage erinnert an »How Does a Poem Mean« (1953) von John Ciardi. Anders als bei Gedichten — bei denen versucht wird, ›Bedeutung‹ durch Interpretation, Übersetzung der poetischen Sprache in eine sachlich-erklärende, weniger kraftvolle Sprache zu ermitteln — liegt bei Fantasy das Problem weniger bei Interpretation, als vielmehr bei Anwendbarkeit. Wie sollen denn unwirkliche Welten tatsächliche Erfahrungen darstellen können? Attbery versteht Missachtung von (Wirklickeits)Bezug {reference}, Sachlichkeit {relevance} und Realismus der Fantasy deshalb als Einladung zum unkonventionellem, symbolischem und strukturellem Denken.

Zweite Frage ist schlichtweg von Jane Tompkins»Sensentional Designs: The Cultural Work of American Fiction, 1790-1850« (1986) geklaut, durch die Attebery zum ersten Mal auf Konzept aufmerksam wurde, daß Literatur kulturelle Arbeit leistet, indem sie in konkreten historischen Bedingungen einer Gesellschaft dabei hilft, über sich selbst nachzudenken; bestimmte Aspekte sozialer Wirklichkeit zu benennen, die Autor und Leser teilen; Konflikte dramatisch darzustellen und Lösungsmöglichkeiten zu unterbreiten. — Fantasy geht dabei indirekter, versteckter und spielerischer vor und läuft quer zur strengen Ernsthaftigkeit mit denen wir uns sonst z.B. mit Liebe, Autoritäten oder dem Göttlichen befassen.

Attbery ist sich bewusst, daß er mit seinen Thesen zur Fantasy Behauptungen über etwas aufstellt, für das viele Menschen eine große Leidenschaft teilen, von Vorlesungssälen und Klassenzimmern, bis hin zu Rollenspiel-Runden und Internet-Diskussionen, etwas, worüber diese Menschen oft umfangreiche Kenntnisse haben. Wenn man diesen Menschen ihre Bedeutung nicht absprechen will, muss man anerkennen, daß Fantasy etwas Bedeutsames ist.

Ältere Auseinandersetzungen mit Fantasy {Molo: hier allgemeiner als ›wundersame Erzählungen‹ also näher an der allgemeinen Bedeutung von ›Phantastik‹ zu verstehen} sind oft von apologetischen, sich um Rechtfertigung bemühenden Tendenzen geprägt. Unter dem herrschenden Zeitgeist, wo Politiker, Karriereberater und Erbsenzähler den Wert der Geisteswissenschaften als Ganzes, und jegliche Art kritischer Auseinandersetzung mit Literatur in Frage stellen, liegt es nahe, die Fantasy {Phantastik} als einen Verfechter der Geisteswissenschaften heranzuziehen.

Wir alle stammen Vorfahren ab, die sich Geschichten ausdachten, um sich die Welt und ihre eigene Stellung in ihr zu erklären. Egal ob wir mit diesen Vorfahren blutsverwandt sind oder nicht, teilen wir als narrative Amerikaner, narrative Europäer, narrative Weltbewohner eine gemeinsame kulturelle DNA, und zu den ältesten Bestandteilen dieser DNA gehört das unrealistische, phantastische Erzählen. Indem wir uns mit Fantasy beschäftigen, geben wir diese DNA weiter, und vielleicht gelingt es uns dabei, sie aufzufrischen.

George R. R. Martin: »Armageddon Rock«, oder: Herzblut mit ›Sex, Drugs & Rock’n Roll … & Fantasy‹

Trotz meiner anfänglichen Abneigung und immer noch ziemlichen Skepsis gegenüber ›Game of Thrones‹ hier als Service und Anteilnehmen am allgemeinen Hype zur Ausstrahlung der finalen, achten Staffel der Grim’n-Gritty-Fantasy-Saga, in leicht überarbeiteter Fassung eine Lobeshymne auf mein Lieblingsbuch von Mæster Martin.

Viel Spaß.


Diesen Roman habe ich zum ersten Mal in den frühen Neunzigern (Heyne-Ausgabe) als Teen gelesen, und er hat mich schon damals schwer beeindruckt. Vorausschicken muss ich folgendes: als 72er-Jahrgang blicke ich von Außen auf die kurze Ära der Hippies, der 68er-Gegenkultur, der Blumenkinder zurück, aber meine Perspektive auf diese Bewegung ist im Zweifelsfall von Sympathie und Respekt geprägt. — Seid also gewarnt: wer die Gegenbewegung der Spät-60er/Früh-70er und ihre (alles andere als eindeutigen Strömungen) für eine liederliche Irrung der Nachkriegsgeschichte hält, und also eher mit einer z.B. Jan Fleischauer-artigen Sicht auf diese Zeit zurückschaut, wird von Ton und Haltung des Romanes wohl ziemlich genervt werden.

Andererseits empfehle ich »Armageddon Rock« allen, die George R. R. Martin vor allem als Schöpfer des Fantasy-Epos über die »World of Ice & Fire« verehren und/oder durch die TV-Verfilmung »Games of Thrones« auf ihn aufmerksam geworden sind, und ihn als Großmeister unerwarteter Handlungsstrangverläufe schätzen, der seine Leser — z.B. mit dem Abbleben von Figuren — zu überraschen versteht. Der zeitgenössische, Weltruhm genießende Martin wirkt im Vergleich zu dem jungen Autor, der »Armageddon Rock« schrieb, fast schon (auf augenzwinkernde Art) abgebrüht, und lehnt sich nicht mehr so weit aus dem Fenster, was seine politische und ideologische Haltung betrifft. Aufgemerkt also, dass der kommerzielle Flop und die Welle negativer Kritiken für »Armageddon Rock« nach Erscheinen des Buches 1983 den Autor dermaßen knickten, dass er sich auf Jahre vom Romanschreiben abwandte, um sich im kommerziellen Betrieb der Film- und TV-Branche zu tummeln (u.a. bei Serien wie »The Beauty & the Beast«).

Was bietet also »Armageddon Rock«?

Strukturell teilt sich der Roman in etwa zwei Hälften. Die Karriere des Ex-Hippies und Polit-Aktivisten Sandy Blair verlief enttäuschend und die feste Beziehung zu einer Immobilienmarklerin bröckelt. Aus dem umtriebigen Musik-Journalisten und Mitgründer eines Underground-Magazins der frühen Siebziger wurde ein erfolgloser Roman-Autor der sich leer und ziellos fühlt. Sein ehemaliger Geldgeber-Kammerad vom Magazin hat ihn schon vor Jahren rausgekegelt, hat das einst engagierte, freche Blatt glattgebügelt und lässt es nun zur Melodie des Kommerzes und der Mode pfeifen. Kurz: Sandy fühlt sich in den frühen Achtzigern der Ronald Reagan-Zeit fehl am Platze, ohne genau zu wissen, warum. Doch er bekommt eine Chance von seinem alten Magazin-Kumpel: Unter mysteriös-grauseligen Ritualmord-Umständen ist der ehemalige Manager der fiktiven, super-duper-erfolgreichen Band Nazgul (stelle ich mir vor wie eine Ideal-Kreuzung aus The Doors, Led Zeppelin, Deep Purple und Hawkwind) ums Leben gekommen, und Sandy soll eine große Reportage über diesen Manager, sowie die noch am Leben befindlichen Mitglieder der Gruppe schreiben. Bald schon beschließt Sandy, dass er um die ganze Geschichte des Unterschiedes zwischen damals und heute richtig fassen zu können, nach langer Zeit auch wieder Kontakt mit seinen ehemaligen Freunden und Freundinnen aus WG- und Studienzeiten knüpfen will. Immerhin geht es um den verlorenen Geist einer untergegangenen Zeit, und was aus ihm geworden ist: Wo sind all die Träume von einer besseren Welt geblieben? (Matthias Beltz hat der deutschen Sprache diesen Weltschmerz des vergeblichen Widerstandes gegen die Hegemonial-Authoritäten folgendes knappe, herzzerreißene Kalauer-Poem vermacht: »Parmesan und Partisan | Wo sind sie geblieben | Partisan und Parmesan | Alles wird zerrieben«.) Also fährt Sandy quer durch die USA und mit dieser ersten Road-Trip-Hälfte breitet Martin ein abwechslungsreiches »Einst und Jetzt«-Panorama aus.

Die Nazgul: Der pragmatische Schlagzeuger Gopher John versucht,  getrieben von einem Gefühl der Fairness, in seinem Provinz-Club jungen Bands Starthilfe zu geben. Der sexy, geile Arschloch-Gitarrist Maggio, ist über seiner Drogen- und Sexsucht fett und unansehnlich geworden. Faxon, der künstlerische Songschreiber-Kopf der Band, lebt vermögend und distanziert im Familienglück und sehnt sich dennoch nach den alten kreativen Zeiten. Und als Erinnerungs-Gespenst nie fern: Hobbins, der kleine, hyper-charismatische Albino, der 1971 von einem Scharfschützen während eines Konzerts ermordete Sänger der Nazgul.

Sandys Freunde: Einsamkeit und dröge Job-Routine haben die lebensfrohe, optimistische Maggie langsam ausgehölt. Die naive Bambi, die sich früher im gewaltbereiten Protestmilieu tummelte, hat ihr Glück in einer friedlich-abgeschiedenen Kommune bei Kindern und selbstgemachtem, vegetarischem Essen gefunden. Lark, einst leidenschaftlicher Polemiker gegen das Establishment singt nun als zynischer Werbefuzzi das Hohelied des Neoliberalismus. Der freche intellektuelle Frauenheld Froggy, versucht als kleiner Uni-Dozent seinen Studenten die Ideale der Vergangenheit zu vermitteln. Und da ist die tragischste Figur des Buches, Slum, der pazifistische, gutmütige Kiffer — eine Art Inkarnation von Tom Bombadil —, Sohn aus wohlhabender, konservativer Familie, wollte vor der Einberufung zu Army nach Kanada fliehen und wurde von seinem herrischen Vater an die Feldjäger verraten und in die Klapse gesteckt.

Die zweite Hälfte hebt damit an, dass ein geheimnisvoller Millionär mit Leidenschaft für Okkultismus den Plan verfolgt, die Nazgul wieder zusammenzubringen, eine große Revival-Tour auf die Beine stellen will, um so mit der Macht der Nazgul-Musik und mit Hilfe von Blutmagie abzuschließen, was einst versandet ist: nämlich die finsteren, erzkonservativen, unterdrückerischen Kräfte der kapitalistischen US-Gesellschaft zu überwinden, auf die sich der Roman anhand des militärisch-industriellen Komplexes, Nixon, des Vietnamkrieges, der unverhältnismäßigen Polizeigewalt gegen Demonstranten, der Attentate auf J. F. und Robert Kennedy sowie Martin Luther King bezieht (eingeflochten ist auch die Klage über den zu frühen Tod von Jim Morrison, Jimmy Hendrix und Janis Joplin). Sandy wird als Promotor angeheuert und begleitet also Proben und Konzerte der wiedervereinigten Nazgul. — (Wie der ermoderte Hobbins ersetzt wurde, will ich nicht verraten. Lest selber, Ihr Süßwassermatrosen!)

Verklammert wird das alles einmal mit einer Art Detektivgeschichte, weil Sandy aufdecken will, wer den Nazgul-Manager wirklich gekillt hat (den offiziellen Ermittlungen traut er so weit, wie er ein Klavier werfen kann). Zum zweiten steigert Martin mit großem Geschick die Heftigkeit der ›magischen Verwerfungen‹, die Hauptfigur Sandy drastisch anhand von Alpträumen und Visionen erlebt. Das ergibt dann umwerfend intensiv wirkende Passagen, z.B. wenn Sandy sich schlaflos im Chicago der Achtziger in einer großen Gespenster-Parade der Anti-Kriegs-Demonstranten und harsch durchgreifenden Sicherheitskräfte beim Parteitag der Demokraten 1968 wiederfindet.

Überhaupt Sprache und Stil: Eigentlich logo, dass ein Roman, der teils naiv, teils wehmütig, teils bitter, teils versöhnlich aber stets leidenschaftlich, subjektiv und emotionell danach trachtet, den Geist der »Make Love Not War!«– und »Macht Kaputt Was Euch Kaputt Macht!«-Zeit zu beschwören, in die Vollen greift. Da wird — auch Dank Sandys Schnodderschnauze — kurzweilig kalauert, gesudert, gewitzelt, gestichelt, debattiert. Auch sorgen knackige Beschreibungen von Saufen, Kiffen, Vögeln, Kater-Qualen, Musik-Lauschen und übermütigen Blödsinnsaktionen für Kurzweil. Alle Register der Stimmungsorgel zieht Martin insbesondere bei den schon orgiastischen Konzert-Beschreibung vor allem im letzten Drittel des Romans (Beispiele aus Kap. 20):

Faxons Gesicht war weiß und ausdruckslos geworden, aber seine Finger bewegten sich mit der sicheren Bestimmtheit von einst über die Saiten seines Rickenbacker, und tiefe dröhnende Töne verschmolzen mit dem Strom der Musik, Töne so tief wie das Räuspern Gottes, so bedrohlich wie das erste Grollen eines Erdbebens, so wahr und so schrecklich wie ein Atompilz. {…} Maggio tanzte wild über die Bühne wie jemand, dem man einen elektrischen Schlag versetzt hatte, aber er grinste in einem fort und fletschte höhnisch die Zähne, und seine Gitarre spuckte beißendes, tosendes Feuer. Wie rasend riss er an den Seiten, und die Akkorde flogen wie Rasiermesser. Hobbins wandte sich zu ihm um, funkelte ihn an und kratzte über sein eigenes Instrument. Klänge und Melodiefetzen schossen hin und her, während sie gemeinsam improvisierten. Die Leute standen auf den Stühlen, klatschten über den Köpfen in die Hände, krümmten sich zur Musik, schüttelten sich, fickten die Luft mit den Fäusten.

Ganz selten stieß ich auf Stellen, die ich unelegant fand (z.B. die 1-A Brüste einer Aktivistin, ihre sexy Brustwarzen, die sich stets durch den Stoff abzeichnen! Dafür ist Stoff ja da! … Und Nippel!!). — Außerdem wurde ich durch die Zweitlektüre daran erinnert, was für ein bombiger Geschichtenerzähler Martin ist. Er schreibt zwar im Großen und Ganzen gefällig, also führt keine hoch-›lüterarischen‹ Kunststückchen auf, vielmehr versteht er es z.B. geschickt, das Tempo abzuwechseln, mal zu raffen, mal zu weiten, oder mit ›Leitmotiven‹ zu arbeiten, was den Text zuweilen sehr überzeugend wie einen dieser überlangen, komplexen Prog-Rock-Songs wirken lässt. Ach, und wie es sich für einen apokalyptischen, von düsterer Hippie-Romantik geschwängerten Roman gehört, wird »The Second Coming« von William Butler Yeats ausführlich als Songtext eines Nazgul-Stückes zitiert.

Martin meidet trotz aller merklich spürbaren persönlichen Leidenschaft für ›seine‹ 68er-Gegen- und Musikkultur einseitige Polemik oder platte Parteilichkeit (einige Stellen wirken vielleicht wie blauäugige Verklärung, vor allem was die Musik tatsächlicher Gruppen von damals angeht; aber das wird durch entsprechend wehmütige Schilderungen, wie Kurzsichtig man doch damals war aufgewogen). — Martin gibt sich als nostalgisch-skeptischer Gegner von Fanatismen, Bevormundung und Beengung jeglicher Coleur zu erkennen und der Roman schließt also mit dem beherzigenswerten Fazit, dass Menschen und persönliche Beziehungen glücklicher machen und die Welt wohl besser aussähe, wenn man diese pflegte, statt sich mit kämpferischem Zorn für Ideologien einzusetzen.

Ein wunderbarer Roman, von mir bei Goodreads mit 5 von 5 Sternchen und dem Ettikett »All Time Favorite« bedacht, der glänzend verdeutlicht, dass man den Alternativkultur-Slogan »Sex Drugs & Rock’n Roll« getrost um den vierten Punkt »UND Phantastik« ergänzen kann.

Bonus:

George R.R. Martin: »Armageddon Rock« (EV: 1983); Aus dem Amerikanischen von Peter Robert; 28 Kapitel auf 391 Seiten; Überarbeitete broschierte Neuausgabe bei Golkonda 2014. Auch als eBook erhältlich.
Für ganz innige, bibliophile Martin-Liebhaber gibt es direkt beim Verlag eine auf 111 Exemplare limitierte und signierte Vorzugsausgabe.

Jahresrückblick 2018: Games

Eigentlich hatte ich folgende Kompakt-Wertungen für den gemeinsamen »Polyreuxblick 2018« geschrieben, aber ›Dank‹ (bitteres »Har har har«) meiner zerschossenen geistigen Verfassung seit meinem (vulgo) Burnout-Nervenzusammenbruch vom 07. November 2018 habe ich mich noch während des gemeinsamen Lektorates von allen Tätigkeiten bei Polyneux zurückgezogen … wofür die lieben Kameradinnen von Polyneux absolut nix können. Ich hab — um die Worte meines Lieblings-Hobbit Bilbo Beutlin zu borgen — gemerkt, dass mir für das große Brot ›gemeinsames Kreativieren und Gehirnstürmen‹ zu wenig Seelenbutter zur Verfügung steht.

Ich möchte euch herzlich dazu ermuntern, dem obigen Link zu folgen, um zu genießen, was (Nennung in alphabetischer Folge) Chris, Christian, Doreen, Jannick, Le Don, Pascal, SpielerZwei, Urs, Volker, Zwerg-im-Bikini zu (wenn ich mich nicht verzählt habe) 78 Spielen Sinnreiches, Flappsiges, Provokatives, Lakonisches, Begeistertes zusammengetragen haben.

Anders als bei den noch ausständigen Rückblick-Bestenlisten zu Büchern/Graphic Novels, Filmen und TV/Stream-Sachen habe ich hier bei den Spielen die Polyreuxblick-Tradition der Pokal-Ehrung der (für mich!) drei besten Spiele übernommen. Der Rest folgt dann in alphabetischer Reihe.


Gorogoa — GOLD

»Gorogoa« ist ein feines Beispiel für die Potentiale eines zarten Genres, das ich ›Game-Poetik‹ nennen möchte (»Journey«, »Virginia« und »Inside« fielen mir noch als jüngere Beispiele ein), wenn bewußt Text und Sprache ausgespart bleiben, und ein Spiel seine Story nur mittels Bild, Ton, Räumlichkeit, Bewegung und Relationen all dieser Dinge zueinander wuppt. Wie man bei »Gorogoa« von einer wunderschönen 2D-Zeichnung in die nächste den Weg durch verschiedene ineinandergeschachtelte Szenen finden muss, und wie Motive durch Schieben, Vergrößern und Verkleinern, Hinaus- und Hinein-Zoomen verbunden oder gegenübergestellt werden und sich dabei Sinn-Harmonien und Bedeutungs-Kontraste ergeben, und wie sich dadurch Zusammenhänge drastisch ändern, die Grenzen der Raum-Zeit magisch überwunden werden können … all das hat mich zutiefst beeindruckt und berührt. Für diese fast im Alleingang von Jason ›Jake‹ Roberts (auf Twittrer @rebuscube) hingezauberte Mischung aus Bildergeschichte, bewegtem Comic und Puzzle-Spiel über Erinnerung, Kindheit, Jugend, Alter, Sehnsucht, Enttäuschung, Trost, Krieg, Krankheit, Trauma, Glaube, Liebe, Hoffnung geb ich ohne mit der Wimper zu zucken Gold als mein liebstes Spiel des Jahres 2018.

Tacoma — SILBER

Als jemand, der bei seiner Rezeption von Weltenbauten der Genre-Phantastik (in diesem Fall Science Fiction) gerne das knatternde Banner der SJW-Relevanz hochhält, bin ich sehr dankbar, dass »Tacoma« im Mai 2018 endlich auch für die Konsole meiner Wahl, also die PS4, erschienen ist. Es ist geradezu eine Wonne, wie hier in einer Kombo aus Theater-Voyeurismus- und Erkundungsspiel die Geschichten von Crew-Mitgliedern einer Raumstation während eines lebensbedrohlichen Notfalls erzählt werden. Die Fülle an Problemlagen aus den Bereichen Arbeits- und Unternehmenskultur, Auf und Ab von zwischenmenschlichen Beziehungen, Finanz- und Gesellschaftspolitik, die auch uns Zeitgenossen in der tatsächlichen stattfindenden Echtwelt umtreiben, sowie typischer SF-Themen wie der Schaffung und Bewahrung von Lebensräumen in den harschen Bedingungen des Weltraums, oder Faszination und Skepsis bei der Begegnung von organischen mit künstlichen AI-Persönlichkeiten hat mich nachhaltig beeindruckt. Und dann ist das alles auch noch derart gut geschrieben und geschauspielert, mit Liebe zum Detail gestaltet und clever konstruiert, dass mir die Verleihung des Silber-Pokals leicht von der Hand geht.

The Council — BRONZE

Hab ewig und drei Tage gebraucht um bei diesem Spiel über die erste Episode hinaus weiterzukommen, weil ich schnell arg eingeschüchtert werde von ernsthaft durchgezogenen Möglichkeitsräumen mit ihren ›Machst’de das eine, kannst’ste das andere nicht (mehr) machen‹-Konsequenzen, vor allem, wenn diese teilweise vom geschickten oder eben verpeilten Manövrieren durch komplexe Dialog-Duelle abhängen. Als Bücherwurm und Kultur-Fuzzi bin ich enthusiasmiert, dass es beim RPG-Aspekt so Charakter-Skills wie ›Etiquette‹, ›Linguistik‹, ›Politik‹ oder — wait for it — ›Belesenheit‹ gibt, und (alter Schwede!) einige der umfangreicheren Puzzle-Strecken schicken den Spieler in einschüchternd auschweifende Info-Labyrinthe … und dann erst die Expositions-Marathons (ich mag sowas, weil ich nicht an »Show, don’t tell« glaube)! »The Council« spielt sich (selten) etwas sperrig und hat (noch seltener) Grafik- & Klangausgabe-Schwächen (auf der PS4 Pro), aber das verzeihe ich gerne angesichts der Ambition, einen feinen Murder-Mystery-Intrigen-Horror-Garn erwachseneren Spielern (die es gern ein bisschen kniffliger mögen) aufzutischen. »Bitte mehr solche Spiele«, soll mein Bronze für »The Council« signalisieren ÷ gerne z.B. mit (Achtung: Gedankensprung) zotigen Slapstick-Humor für ›ab 16‹ mit solchen Klassikern wie »Der Partyschreck« als Vorbild.


Assassin’s Creed Odyssey

Spielfigur Kassandra verleiht »Assassin’s Creed Odyssey« für mich genau jene dringend nötige emphatische Würze aus Ironie, Stolz, Anteilnahme und lausmädeliger Ungehobeltheit, um das ganze narrative Soufflé aus Schicksal und Übermenschentum im mythisch-antiken Griechenland nicht zur nervigen Historien-Fantasy-Pampe zusammenfallen zu lassen. Wenn sogar Akademiker — vor allem Altertumsgelehrte und Archäologen — für ihr Geplauder über Wohl und Weh der im Spiel geleisteten Rekonstruktion von Stätten, Kunst, Alltagsleben und Prominenz sogar ein eigenes Hashtag (#ACademicOdyssey) prägen, nehm ich das als Indiz, dass Ubisoft endlich mal wieder mehr richtig als schludrig gemacht hat. Bin inzwischen ca. zu 3/4 durch und extrem begeistert von (nach dem Ägypten-Vorgänger »Assassin’s Creed Origins«) der zweiten Phase Rundumerneuerung dieser kunterbunten Open-World-All-Inclusive-Touristik (inkl. Schlachtfeld-Mosh-Pit, Seeschlacht-Pogo, Kopfgeldjäger-Watschentanz und ständiger Angst vor aggressiven Hühnern und Wildschweinen), dass ich um ein Haar Bronze verliehen hätte.

Detroit: Become Human

Nachdem ich meinen ersten Durchgang mit maximalem Gutmenschen-, ähh, Gut-Andro-Gynoidentum absolvierte, würde ich »Dertoit: Become Human« eigentlich wahnsinnig gerne noch mindestens einmal mit höchstmöglichem Arschlochfaktor angehen wollen, allein … oh weh! … der zumeist zähe Habitus des Spieles lässt mich zaudern. Obwohl ich vielen Ambitionen der Macher von Quantic Dream prinzipiell mit großem Wohlwollen begegne, kann ich die fundamentale Behämmertheit von allzu vielen Einzelheiten nicht schönreden. Trotzdem fände ich es reizvoll, z.B. mal unter die Lupe zu nehmen, was man als Spieler alles wie manipulieren kann (vom Geschirrspülen, über Ausgestaltung von Protest-Aktionen, bis hin zu welcher Journalist bei einer Pressekonferenz wann ‘ne Frage stellen darf) und was das dann eigentlich genau bedeuten/vermitteln soll. Überhaupt: »Was soll das alles? Warum?«, und vor allem: »Hä?!?!!« — Dennoch ein Titel, bei dem allein schon das krasse Hin- und Her zwischen unfreiwilliger Peinlichkeit und gelungener inszenatorischer Wucht für anregende Kurzweil sorgt, wenn auch sicherlich nicht durchwegs im Sinne der Schöpfer.

Far Cry 5

Alles übern Haufen ballern: FUN! Alles mögliche in Flammen aufgehen lassen, oder wegsprengen, oder in Fetzen karambolen: FUN! So weit, so effektiv primitiv. Yo, ich hatte viel Rambazamba mit der Landschaft, den Sammelaufgaben, den verschiedenen sportlichen Herausforderungen (am besten: Clutch Nixon Stunt-Missionen!!!), hab mich beim Jagen und Fischen entspannt, fand ’n ganzes Büschel (vor allem Neben-)Missionen erstaunlich amüsant und pfiffig, und konnte dem Soundtrack (vor allem den Songs »Help Me Faith« und »Oh the Bliss«), sowie groben Zügen der narrativen Konzeption durchaus einiges abgewinnen (insbesondere der Ideologie-Kritik anhand der Regions-Boss-Trias: ›Täufer‹-Sadist, Drogen-›Sirene‹, Menschenjäger-›Soldat‹). Das Buddy-Gameplay mit echten Menschen war ›Dank‹ Glitches stets schnell vorbei. Das Ausleben von Allmachts-Phantasien mit KI-Mensch-, -Spezialisten- und (am besten) -Tier-Begleitung aber dafür um so zünftiger. Und doch hab ich nur ca. 4/5 von »Far Cry 5« durchgespielt, bevor es im Desinteresse-Sumpf meines Gemüts, bzw. gebraucht verkauft Richtung eines Arbeitskollegen verschwand. Enttäuschend, dass die Entwickler nicht die Eier hatten ihre zahlreichen brillanten Ansätze für eine wahrhaft unerschrockene Bespiegelung der gegenwärtigen Mutationen und Monstrositäten des ›American Dream‹ voll durchzuziehen, und sie stattdessen das meiste mit einer pappigen Soße zynischer ›I did it for the lulz-YOLO!‹-Ironie zugekleistert haben.

God of War

Große Freude meinerseits zu erleben, was dabei herauskommt, liebe Haudraufinnen und Haudraufe, wenn Games-Entwickler sich selbst weiterentwickelt haben: Keine laszive ›Tits and Ass‹- und ›krass um der Krassheit willen‹-Inszenierungen mehr, dafür ausgereifte Mainstream-Brachialität mit bisweilen erfrischend nachdenklichen Noten. Obwohl das Plot-Gerüst episodisch (klassisch!) vorhersehbar ist — »Hold dies, hold das, sonst geht die Tür nicht auf« — und etwas ungelenk zwischen linearer und Open-World-Struktur rumeiert, erzählt »God of War« mit seinem kleinen Figurenensemble eine meist amüsante, ja sogar berührende ›Wenn der Vater mit dem Sohne‹-Geschichte. Zudem: Daumen hoch von mir für die ›Ein Herz für Riesen‹-Auslegung der nordischen Mythen, und dass diese womöglich auch nur überwiegend von Siegern geschriebene Selbstbeweihräucherungen sind. Präsentation und spielmechanischer Unterbau mögen backtrackende Komplettisten auf dem Weg zur Platin-Trophäe hie und da zwar mit Längen nerven, doch abgesehen davon wird dieses ›Midgard a la Las Vegas‹ prächtig dargeboten (allein schon die Massage durch das kraftvoll-derbe Bassgewummer ist eine Wonne). Das Einzige, was mich wirklich wurmt: abgesehen von komplett neu beginnen bzw. New Game Plus gibt’s keine Möglichkeit, die geilen Weltenriss- und Walküren-Kloppereien für wiederholten Genuss anzusteuern. Ansonsten: ich freu mich auf weitere Abenteuer mit Kratos und Companions.

Mehr von mir zu Spiel zusammen mit Kammeradinnen Christian, Urs, SpielerZwei und Doreen im »God of War«-Polytalk.

Marvel’s Spider-Man

Praktisch alle sind sich einig, daß »Marvel’s Spider-Man« als Adaption seines Quellmaterials ›mit Liebe gemacht‹ ist. Neben »God of War« ist es in Sachen ›besser als Kino!‹-Präsentation und Zugänglichkeit der Allmacht-Auslebungs-Prügelorgien — sprich: mit wild Knöpfchen drücken und Verwendung von Sonderfertigkeiten kommt man locker, wenn auch etwas stumpf und eintönig durch die Haupt-Story — sicher eine der Showmanship-Wummsbrummen des Jahres, und vom Herumschwingen kann man nicht genug bekommen. Auch wer’s anspruchsvoller-kniffliger mag, wird reichlich bedient im Hauptspiel und erst recht in der DLC-Trio »The City That Never Sleeps« mit herausfordernden Neben-Missionen. Für mich am Überraschendsten: das Flair von Spidy ist doll, wenn man reinkippen kann. Positiv, optimistisch, verantwortungsvoll, willensstark, aber auch vorlaut (wer derart kindhafte Kalauer pflegt, kann kein schlechter Kerl sein), unbedacht, tollpatschig, bisweilen treu-doof (Hundeblick … awwwh), womöglich der mainstreamigste, populärste Softcore-Posterboy des grazil-triumphal inszenierten, jugendlichen Männerkörpers und als freundlicher Nachbarschafts-Community-Helferchen mit Herz ein um Längen willkommenerer Superhelden-Übermensch als irgendwelchen tragisch-düsteren Rächer. — Wegen einiger kleiner aber sehr nerviger Macken (»Sie verlassen das Missions-Gebiet!«) und größtenteils schwacher Boss-Kämpfe leider kein Pokal von mir.

Mehr von mir zu Spiel zusammen mit Kammeradinnen Christian, Pascal und SpielerZwei im »Marvel’s Spider-Man«-Polytalk.

Ni No Kuni 2: Revenant Kingdom

Am liebsten würd ich zu »Ni No Kuni 2« einfach nur verbittert schweigen, weil es die größte Enttäuschung für mich war, seit ich Playstation-Pfadfinder bin. Vom ersten »Ni No Kuni«war ich ja hellauf begeistert und ich sehne mich sehr danach, endlich mal die Zeit zu finden es nochmal anzugehen (hab damals meinen Speicherstand von ca. 70% bei einem Wechsel von kaputter zu neuer PS3 verbaselt). Bei »Ni No Kuni 2« hat mein entsprechend vorhandener Begeisterungsvorschuss, trotz der überraschend wuchtigen Eröffnung, bereits im Tutorial heftigen Schwund gelitten. Ich wurde mit den beiden ersten Spielerfiguren nicht warm. Ich vermisste ein magisches Buch (egal ob echt oder nur digital), in dem ich mich orientieren könnte, wenn mir die riesige Grabbelkiste der Features, Menüs, Items, Viecher usw. zu viel wurde. Die Kämpfe forderten mich kaum heraus. Der erste größere Erzählstrang (Aufdecken von hintertückischen Manipulationen in einer Kasino-Stadt) erschien mir ungelenk wie geht nicht mehr, und ich war fassungslos, wie lahm ich das erste Schlachten-Minispiel fand. Anhand von ständigen Ladebildschirmen, mittelmäßiger Story, nicht enden wollenden Repetitionen immer gleicher Aufgaben war ich derart gelangweilt, dass auch die bezaubernde Präsentation aus wunderschönem Studio-Ghibli-Zeichentrick- und Musik-Stil meine Geknicktheit nicht glätten konnte. Hab das Spiel dann wieder verkauft.

Red Dead Redemption 2

Je älter ich werde, desto widerlicher finde ich Humor, weite Teile der Figuren-Charakterisierung und Handlungsbögen, die Publisher Rockstar Games von Anbeginn an als zentralen Bestandteil seines Alleinstellungsmerkmal-Portfolios sorgfältig hegt. Dabei habe auch ich mich einst bei »Bully« (»Cave Canem Edit«) und »GTA: San Andreas« vom besonderen Charme, den Rockstars schwarzhumoriger Nihilismus an haarsträubenden und schadenfrohen Krassheiten zu bieten vermag, noch weitestgehend vorbehaltlos hinreissen lassen. Und ich rechnete es dem Studio hoch an, wie es sich bei »GTA IV«, »Red Dead Redemption« und »L. A. Noire« merklich bemühte, sein Spektrum an Affekt-Reizung um ernstere, reflektiertere und zartere Facetten zu erweitern. Doch der kolossale Erfolg von »GTA V«, und damit die Bestätigung, dass sich die meiste Kohle scheffeln lässt, wenn man volle Pulle der kulturindustriellen Blödmaschinen-Rezeptur ›Gebt dem Affen Zucker‹ folgt, begrub diese empfindsameren Ansätze größtenteils (man findet sie bei RDR2 am ehesten noch bei der Liebe für Details bei der Natur-Inszenierung). Obwohl für mir nun RDR2 bei weitem nicht so verachtungswürdig dünkt wie »GTA V«, trübt meiner mittlerweile gereifteren Sensibilität geschuldeter Argwohn dazu, aus welcher Perspektive man ermuntert wird über was (hämisch) zu lachen meine Unbeschwertheit. Hinzu kommen: eine Steuerung, die ich nur als spektakulär unbeholfen bezeichnen kann, ein ewig ödes Herumreiten von A nach B, sowie eine derartig einschüchternde Masse an überwiegend folgenlosen Kleinkram die RDR2 über seinen Spielern ausschüttet, dass ich allen gutmütigen Willen aufbringen muss, die durchaus köstlichen Aspekte, die es ja gibt, nicht zu übersehen. Derweil trödle ich immer noch irgendwo im Gebiet des ersten richtigen Camps herum, werde aber für meine kommenden RDR2-Sessions einem willkommenen Rat von Polyneux-Kameradin Doreen (aus dem internen Forum) folgen, und mich so lange dem ruhigen Genießen von Naturschönheit beim Jagen und Fischen hingeben, bis ich mich entspannter der beeindruckenden Gesamtleistung, die RDR2 zweifelsohne auszeichnet, widmen kann.

Shadow of the Colossus HD-Remastered

Um anzudeuten, warum »Shadow of the Colossus« schon in seinen vorherigen Versionen auf der PS2 und PS3 berechtigterweise als maßstabsetzendes Meisterwerk gilt, ist eine extra Erklärbärerklärung durch mich unnötig. Die HD-Remastered-Version für die PS4 bietet genug spieltechnische Neuerungen (Sammelgegenstände!) um einen mit dem Inhalt vollumfänglich Vertrauten bei Laune zu halten. Und was Bluepoint Games bei ihrer optischen Politur aus der ohnehin hübschen SOTC-Welt gemacht haben, raubte mir vor erhabener Entzückung schier den Atem. Den einzigen Kritikpunkt, den ich anbringen kann: leider wurde darauf verzichtet auch die Musik entsprechend aufzupimpen und entsprechend des heutigen Standes der technischen Möglichkeiten mit sattem Orchester-Klang neu einzuspielen. Trotzdem werde ich, wenn ich des besonderen Trostes und der meditativen Besinnlichkeit bedürftig bin, mit denen einen dieses Spiel beschenken kann, SOTC mindestens noch so oft einlegen, bis auch ich Platin habe.

 

Jahresrückblick 2017: Games

Derzeit brüte ich über meinen Games-Kurzbesprechungen für den »Jahresrückblick 2018« (es wird geben: »Assassin’s Creed: Odyssey«, »The Council«, »Detroit: Become Human«, »Far Cry 5«, »God of War«, »Gorogoa«, »Marvel’s Spider-Man«, »Ni No Kuni 2: Revenant Kingdom«, »Red Dead Redemption 2«, »Shadow of the Colossus (HD-Remastered)« und »Takoma«) … und da halte ich es nicht für überspannt, meine Beiträge von den Rückblick auf das Jahr 2017 nun hier versammelt der werten Leserschaft zu unterbreiten. Ich empfehle drüben bei ›Polyneux‹ vorbeizuschauen, um alle Rückblicke meiner geschätzten Kolleginnen zu genießen!

Hier habe ich die einzelnen Kurzkritiken leicht überarbeitet und neu sortiert: zuerst die drei Gewinner der Gold-, Silber und Bronze-Pokale, dann alphabetisch der Rest.


»Horizon: Zero Dawn« — GOLD

Mal ideologisch aufgezogen, kann man allen hämisch giftspeienden Zweifeln, es ließe sich aus wohlmeinenden aber ach so blauäugigen Social-Justice-Warrior- und Gutmenschen-Fieberträumen keine athletisch-brazige Äktschn schustern nunmehr gelassen lächelnd damit begegnen, dass man auf »Horizon: Zero Dawn« zeigt und erwidert: »Kann man wohl, und für elegant, abwechslungsreich, anrührig, humorvoll, tragisch und episch ist sogar auch noch locker Platz im Sackerl.«

Jeder zynische Depp, der noch in traditionellen Machtfantasieschablonen der ihrem Kollaps entgegentrudelnden Zeitgenossenschaft gefangen ist, kann sich düster-bestialische Stammeskriegsgrausamkeiten einer postapokalyptisch zurückgestutzten Menschheit aus der Nase ziehen, die Kunst wahrlich erquickender Science Fiction aber speist sich aus dem (nicht spezifisch christlich formatierten, sondern ganz allgemein-vagen) evangelikalen Vermögen, zu erahnen, dass in all den bevorstehenden Leiden und Zusammenbruchs-Szenarien irgendwo auch schon Keime der guten Botschaft Hoffnung darauf harren erweckt zu werden.

Kurz: »Horizon: Zero Dawn« passt wie Deckel auf Topf zu meinem Gemüt und meiner Denke und bekommt dafür Gold.

»Everything« — SILBER

Eine der edelsten Leistungen, welche zwischen den Dingen und Subjekten befindliche und zwischen ihnen vermittelnde Menschen, Objekte und Werke (vulgo: Medien) vollbringen können, entfaltet sich hier in einer Disziplin, die in Zeiten zunehmender ideologischer Wasserscheidenbildung und pekunärer Grabenweitung, für vom Optimierungstraining für zweckrationalistische Verblendungszusammenhänge selbstentfremdeten Gepiesakten, immer schwerer gelingen will: spielerische Bewusstseinserweiterungen.

Gekoppelt mit segensreicher Entschleunigung und (abgesehen von der Jagd auf Trophäen) weitestgehender Abwesenheit von zu absolvierenden Zielen, beschenkt »Everything« als Open-World-Mandala uns mit einer kunterbunten Grabbelkiste voller Umwelten und ihrer zig Bewohner, mit denen man auf vielerlei Weise herumdoofen kann, während man Vortragsschnipsel des westlichen Zen-Vermittlungspioniers Alan Watts lauscht. Pures Glück.

»Hellblade: Senua’s Sacrifice« — BRONZE

Ich stehe vollumfänglich zu dem Resümee, dass ich im Polytalk zum Spiel gegeben habe: »Ich halte es nicht für verfehlt festzustellen, dass ›Hellblade‹ vor allem durch die Gnade der Expressivität von Frauen mehr geworden ist als ein x-beliebiger, tragisch-zorniger Grim’n’gritty-Garn«, womit ich die Leistung von Senua-Darstellerin Melina Juergens und die der Furien-Stimmen vom feminstischen Theater-Trio RashDash gewürdigt wissen wollte.

Das Kampfsystem ist ganz knapp tief genug, dass mir Button Smashing stumpfes Vergnügen bereitet. Die Rätsel sind schon abwechslungsreicher und beschäftigten mich entsprechend lustvoll. Die optische Qualität ist eh der Wahn, und die Atmo ist so wuchtig, dass mich trotz der eigentlich vorhersehbar-formelhaften Unterweltreise ein mächtiges Geschick der emotionellen Manipulation anrührte und mein Inneres zum Schwingen brachte.

Für all das und den kreativen und unternehmerischen Kraftakt von Ninja Theory, neue ›Independent-AAA‹-Wege zu wagen, gibts von von mir Silber.


Dark Souls 3: DLC — The Ringed City

Als Fantastik-Feinschmecker hat es mich zutiefst entzückt, wie sich DLC Nummero 2 The Ringed City als Abschluss eines umfangreichen Fantasy-Weltenbaus der von vielen ersehnten — und für dieses Genre sonst so typischen — linearen Klarheit heilgeschichtlicher oder apokalyptischer Epik verweigert hat, und stattdessen seinem ureigensten narrativen Groove treu blieb, indem es sein aus Lore-Infos, -Querverweisen und -Lücken gestricktes narratives Netzwerk mit nur noch mehr numinöser Kryptik ausschmückte und schimmernd mehrdeutig ausfransen lässt.

Spielerisch wird einiges bisher bei Dark Souls noch nicht Dagewesenes gereicht, und völlig kaputte Komplettismus-Zwangsneurotiker, die keinen noch so aberwitzig harten Boss unbezwungen lassen können, dürfen wonniglich an Finsterdrache Midir verzweifeln.

Uncharted: The Lost Legacy

Gemessen an der Zeit die ich seit Wochen in der Multiplayer-Suite von Uncharted: The Lost Legacy vertüdel, ist dies mit weitem Abstand mein Lieblingstitel des Jahres. Aber subjektiv-eigentümliche Shooter-Fetischismen sind ja nicht alles, ne? Klaro können auch die neuen Protagonisten-Ladies Nadine und Chloe nicht über die grundsätzliche Ausgelutschheit der Reihe hinwegtäuschen, aber die Naughty Dog-typischen Tugenden schaffen es zumindest bei mir, die bellenden Hunde scharfer Kritik in den Schlaf zu kraulen. Und versteckt als Kletter- und geduldig-nix-tun-Trophäe gibt’s den (für mich) besten animierten Bildschirmschoner aller Zeit seit ever!

Wolfenstein II: The New Colossus

Bei keinem Spiel habe ich 2017 so oft frustriert geflucht, wie bei »Wolfenstein II: The New Colossus«, denn ich wollte meinen ersten Durchgang mit Schleich-Kill-Taktik absolvieren, hab aber immer wieder vor den Latz geknallt bekommen, dass Gegner-KI und (bis auf wenige Ausnahmen) Level Design gar nicht dafür ausgelegt sind. Dann gibt es enttäuschenderweise im Gegensatz zum Vorgänger statt richtigen, einzigartigen Boss-Kämpfen lediglich Arenen mit ganz besonders umfangreichen Wellen an Standard-Gegnern, und der große Bogen der Erzählung zerfasert erstaunlich unrund.

Trotzdem bin ich diesem eigensinnigen Spiel mit Haut und Haar verfallen, weil es (wie schon »Wolfenstein: The New Order«) für ein Blutrauschballerbumspiel charmant viel Hirn und Herz mit pulpig-brachialer Chuzpe bietet, und es unterm Strich, gemessen an meinen Frustmomenten, viel mehr Gelegenheit für mich gab zu staunen, zu schmunzeln, enthusiasmiert „WTF?!“ zu rufen, Becker-Faust zu machen, triumphal zu grölen, Kloß im Hals und feuchte Augen zu haben. Ich freu mich schon auf die DLCs und den hoffentlich wieder mit etwas mehr Gameplay-Sorgfalt versehenen Trilogie-Abschluss.

Burnout-Link-Tipps — #5

Fünfte und letzte Lieferung der (fast) täglichen kulturellen Link-Bonbons, die mir Freude machen und Kraft spenden und die ich seit meinem Burnout-Zwischenfall mit ›meinen Leuten‹ in einer kleinen Privatmitteilungs-Gruppe bei Twitter teile.

Ab Montag den 17. Dez. bin ich wieder uff der Arbeit und werde nicht mehr so viel Zeit und Musenkraft haben Link-Tipps zu zu teilen, bzw. hier in so langen Sammelbeiträgen aufzubereiten.

Aber ich strebe an, die kurzen Link-, Kultur- und Gott-und-die-Welt-Tipps, die ich bisher hier rausgeballert habe als einzelne Häppchen für ›molochronik reloaded‹ anzubieten.


Freitag, 07. Dez.: Einigen von euch ist ja bekannt, dass ich die Filme von Denis Villeneuve sehr verehre. Bin bei ‘nem Netzstreifzug zufällig in »Prisoners« (2013) reingestolpert und fand den vom Fleck weg gigantisch (war nebenbei auch mein erster Kontakt mit der wundervollen Musik des leider viel zu früh verstorbenen ›Drone Music‹-Meisters Johann Johannsson). Ich war angetan, wie hier mit ruhiger Hand enorm fett Atmosphäre aufgeladen wird, sachte, dem Publikum zutrauend, Geduld und Lust am Beobachten zu haben (statt sich ›nur‹ berieseln zu lassen von Spektakel-Wuchtigkeiten). Hab dann »Die Frau die singt – Incendies« (2010, nach einem Theaterstück von Wajdi Mouawad; bis heut mein Lieblingsfilm von Villeneuve) nachgeholt, dann »Enemy« (2013 für mich sein schwächster Flick, aber dennoch ein köstliches Bon-Bon für Freunde der verstörend-rätselhaften ›Magischer Realismus‹-Phantastik), »Polytechnique« (2009, Tipp: liegt als Bonus-DVD der Sonderedition von »Enemy« bei) und schließlich »Sicario« (2013, mein erster Villeneuve im Kino).

Ich war sehr nervös, wie Villeneuve wohl »The Story of Your Life« von Ted Chiang (als Übersetzter kenne und schätze ich Geschichte nur zu gut) adaptieren würde: »Arrival« (2016, bin zufrieden damit, wie der knifflige Erzählknoten gelöst wurde) fügt sich neben den Arbeiten von z.B. Alex Garland (»Ex Machina« & »Annihilation«) oder Brit Marling (»Another Earth«, »The East« & der Netflix-Serie »The OA«) zu einem kleinen aber feinen Kanon zeitgenössischer, bewundernswert engagierter, poetischer Science Fiction-Film-Gemmen. Letztens habe ich einem Hausbesuch »Blade Runner 2049« (2017) vorgeführt — für mich einer der seltenen Fälle, wo ‘ne Fortsetzung um Klassen besser ist als das Original. Ich hab ihn zum sechsten, der Gast zum ersten mal gesehen und ich war baff, wieviel ich immer noch aus diesem Film schöpfen kann.

An die älteren franko-kanadischen Sachen von Villeneuve kommt man hier in Europa leider nicht rann, obwohl einige davon bei uns sogar im öffentlichen-rechtlichen Fernsehen versendet wurden. Als nächstes stehen ja zwei Teile »Dune«-Verfilmung nach dem SF-Klassiker von Frank Herbert an. — Hier als Kostprobe des Könnens von Denis Villeneuve »Next Floor«, ein Musterbeispiel, wie man wirklich ›spooky shit‹ in eine aufrüttelnd komische Grotesque verwandeln kann:


Samstag, 08. Dez.: Heutiger Tipp ist wieder ernster (bietet imho dennoch einige Gelegenheiten zum Schmunzeln). Als ich noch mehr Eierschalenreste hinter den Ohren hatte, war ich für so Leuz wie Rüdiger ›ich mach schon mal den Wein auf‹ Safranski, Peter ›die männliche Antje der Befund-Philosophie‹ Sloterdjik oder (um den geht’s) Norbert Bolz noch geduldiger und empfänglicher … oder sind diese Herren im Lauf des neuen Jahrtausends einfach rapide dööferer, ängstlicher, eitler kurz: unvernünftiger geworden? Damals hab ich noch Magazine wie »Cicero« gelesen ohne sofort zu meinem Revolver zu greifen und zitierte sogar Texte von Norbert Bolz ausführlicher in meinem Blog: »Lesende Weltwanderer« (gutes Beispiel, warum ich ein unentspanntes Verhältnis zu meiner Schreibe hab).

Mittlerweile scheint Bolz die Welt des zivilen Sprechens und unaufgeregten Denkens weitestgehend abhanden gekommen zu sein und er hat sich merklich radikalisiert. Aus einem, der mal liberal-konservativ originell war, wurde jemand, der eifrig ein Spektrum irgendwo zwischen elitär-populistisch bis krypto-völkisch bedient. Wie sich wo ein Wandel vollzieht, haben Autor Wolfgang Ulrich (auf Twitter: ) und Kunsttheoretiker Jörg Schaller (auf Twitter: ) in einem langen, und wie ich finde, sehr fein geschriebenen und dargelegten Analyse-Gespräch zu Bolz’ twitter-Texten bei »Pop-Zeitschrift Kultur & Kritik« unter dem zum Niederknien schönen Titel »Im Stahlgezwitscher« besprochen.


Sonntag, 09. Dez.: Ich absolviere ja (Dank der Mediathek der Stadtbücherei Frankfurt) dieser Tage eine Erst- bzw. Wiedersichtung von »Games of Thrones« (is’n Thema für sich) und jedesmal, wenn bei den fast durchwegs hörenswerten Audio-Kommentaren die Mitwirkenden (verständlicherweise) über den Vorspann als »beste Main Title-Sequenz ever abjubeln, denk ich mir: »Jo, schon doll, vor allem, weil der für Zweitwelt-Fantasy so wichtige geographische Orientierungs-Service geleistet wird, aber nicht so hübsch, wie z.B. einer der schönsten Vorspanne (Vorspänner? Vorspanni?) der letzten Jahre: dem zur Piraten-Äktschn-Soap ›Black Sails‹«.

Die Serie selbst find ich nicht so knorke und hab entsprechend anfangs nur zwei, drei Folgen weit reingeguckt. Aber das als Elfenbeinskulptur gestaltete Seeräuber-Panorama im Verbund mit der fetzigen Metal-Folk-Mukke von Bear McCreary löst bei mir stets Gänsehaut aus. Der Serie geb ich vielleicht noch mal ‘ne Chance, wenn sie bei einem der Streaming-Anbieter, bei denen ich Kunde bin, für umme angeboten wird.

Hier nun ein feiner Artikel bei »The Art of the Title«, wo die vielen Einflüsse besprochen werden. Ich hab mir beim Gucken der ersten »Black Sails«-Folge ja sofort gedacht: »Das ist voll vom Neo-Barock-Meister Kris Kuksi geklaut!«, einem komplett Irren bildnerischen Collage-Künstler, den ich vor Jahren über das Blog »This Is Colossal« entdeckt habe. — Für die Star Wars-Freunde unter euch, hier ein Beispiel für Kuksi’s Humor: »Imperial Rights Fighter«.


Montag, 10. Dez.: Heutiger Tipp des Tages hat mich dazu verleitet, spaßeshalber mal zu vergleichen, wie es in den verschiedenen europäischen Wikis um den Film »Der König und der Vogel« (1979) von Jacques Prévert und Paul Grimault bestellt ist.

Trostpflaster: es gibt den Film in seiner restaurierten Fassung billig auf DVD oder bei Amazon Prime für umme. Wer »Der König und der Vogel« nicht kennt, sei herzlich dazu ermuntert, ihn nachzuholen. Ich habe den einmal Anfang der 80er als Kiddi im Dorfkino gesehen, so richtig mit Dia-Leinwand und Projektor-Geratter, zusammen mit vielleicht zehn anderen Rotznasen unter Aufsicht meiner größeren Schwester.

Erst letztes Jahr hatte ich via Amazon Prime die Gelegenheit ihn wieder mal zu gucken, und heut Abend ist er wieder dran. Unmöglich zu übertreiben, wie prägend diese Zeichentrickgemme für mich war: hat zusammen mit »Der Dunkle Kristall« (den ich damals 2-3 Jahre später sah) wesentlich dazu beigetragen, dass ich mit Mainstream-Fantasy nie wirklich warm geworden bin und stattdessen ehr die krummeren Pfade der sogenannten ›weird fiction‹-Phantastik eingeschlagen habe, für die Surrealismus, Symbolismus bis hin zu Dada einflussreicher sind, als klassische Mythen, Sagen und Heldengeschichten.

Meine Helden von Arte haben ein feines kleines Filmchen gestaltet: »5 Gründe um ›Der König und der Vogel‹ wieder zu sehen«.

Als herausragendes Exempel von dem, was ich gern ›die andere Fantasy‹ nenne, reicht der Einfluss von »Le Roi et l’Oiseau« weit in die heutige phantastische Populärkultur. An den Video-Spiel-Klassiker »Ico« hab ich auch gedacht, aber vor lauter Husch-Husch vergessen zu erwähnen. Ich Danke Rainer Sigl vom ›VideoGameTourism‹-Blog für seinen Hinweis auf den feinen Artikel »Ahnenforschung im Traumschloss« von Christof Zurschmitten. — Lass Dich umarmen, Kamerad!


Mittwoch, 12. Dez.: Ich arbeite heute an meinen Jahresbückblick-Kurzbesprechungen von Games für . Da kann jeder auch Bronze-, Silber- und Gold-Pokale vergeben und ich nutze die Gelegenheit, euch meinen Gold-Titel hier sozusagen vorab gesondert zur inniglichen Beherzigung anzuempfehlen.

Über fünf Jahre hinweg, fast im Alleingang, hat Illustrator (der sich das Game-Programmieren selbst beibrachte) Jason ›Jake‹ Roberts () an gefrickelt und herausgekommen ist ein im Grunde sehr simples und zugleich filigranes, poetisches Spiel. — Beim Versuch die quecksilbrige Natur der Wirkung von ästhetischen Reizen auf das Gemüt zu fassen neige ich bisweilen zum intermedialen Vergleich und bemühe deshalb gern mal z.B. musikalische Begriffe für Bücher, literarische für Filme, dramaturgische für Musik u.s.w.. Auf dem schier unüberschaubaren Feld der Video-Spiele gehört der Bereich der ›Game-Lyrik‹ womöglich zu den kleinsten, aber »Gorogoa« ist ein leuchtendes Beispiel für das großartige Potential dieses zarten Genres. Alles wird mit wunderschönen handgezeichneten Illustrationen ›erzählt‹, weitestgehend (auf den ersten Blick) realistisch. Die Weise, wie man hier von einem Bild ins nächste seinen Weg durch Erinnerungen finden muss, und die Art wie verschiedene Motive durch Schieben, Vergrößern und Verkleinern, Hinaus- und Hinein-Zoomen gegenübergestellt werden und sich dabei Sinn-Harmonien und Bedeutungs-Kontraste ergeben, oder wie sich plötzlich Zusammenhänge drastisch ändern können, haben mich zutiefst beeindruckt und berührt. — Leider hat das Gerät, auf dem ich »Gorogoa« gekauft habe (mein iPad mini) einen bösen Bildschirmschaden und ich kann das Spiel nicht mehr komplett sehen. Zu gerne würde ich »Gorogoa« noch ein paar mal ganz genau Notizen führend durchwandern, um haarscharf aufzupassen, was da eigentlich erzählt wird. So kann ich nur aus der Erinnerung zusammenfassen, dass es eine gänzlich überraschende Mischung aus Bildergeschichte, bewegtem Comic und Puzzle-Spiel ist, der ich ohne mit der Wimper zu zucken Gold als mein liebstes Spiel des Jahres 2018 gebe.

 

54 Fragen über Bücher und Literaturgeblogge

Ich bin mal voll die Sau und klaue einen Fragebogen, den die Heldinnen und Recken von »54books« (von denen ich einigen auf Twitter folge) für »mojoreads« beantwortet haben. Hab heut schon früh begonnen weiter meine Bude aufzuräumen, dann lang zu einer Wahnsinns-Compilation angezappelt und musste danach auch meinen Geist entrümpeln.


1. Was verbindet oder unterscheidet deine Rezensionen auf ›molochronik‹ & ›molochronik reloaded‹ von denen in klassischen Feuilletons?
— Ich muss mich nicht nach einer gewünschten Längenvorgabe ausrichten, kann machen, was ich will, schreiben wie ich will (oder wie es mir eben gelingt).

2. Wie entscheidest du, welche Titel du besprichst?
— Interesse, Laune, und ob ich mir den Titel leisten kann.

3. Schreibst du auch Verrisse oder schweigst du Bücher, die du nicht magst tot?
— Schreib auch Verrisse, achte aber darauf, dass ein Verriss Relevanz in sich birgt und nicht einfach nur Mießmach-Fun liefert.

4. Bekommst du ungefragt Bücher zugeschickt, wenn ja, in welchem Ausmaß?
— Höchstens als Überraschungs-Geschenk von lieben Menschen. Von Verlagen oder Agenturen unverlangt eingeschickte Bücher würde ich prinzipiell nicht besprechen.

5. Wer ist die Person, wer sind die Personen, deren Bücherempfehlungen du ohne Nachdenken annimmst?
— Ohne Nachdenken geht bei mir so wie gut gar nix. Aber es gibt eine Reihe von Leuz, deren Urteil ich vertraue.

6. Was ist dein liebstes Buch aller Zeiten?
— Möglicherweise der »The Scar« von China Miéville.

7. Was ist bislang dein Lieblingsbuch 2018?
{Guckt in seiner Goodreads-Jahresübersicht nach}: Womöglich »Kanaillien-Kapitalismus — Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft« von César Rendueles. Eine Buch gewordene Granate. Extrem gut lesbar und sehr fein holistisch gedacht und gefühlt. Bestätigt eine langfristige Grundannahme von mir, das wir nicht artgerecht gehalten werden vom Kack-Kapitalismus.

8. Was wäre dein Buchtipp für Ausgebrannte?
— Die vier klassischen Witzebild-Bände von F. K. Waechter bei Diogenes: »Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein« (1978); »Es lebe die Freihei«* (1981); »Männer auf verlorenem Posten« (1983); »Glückliche Stunde« (1986). Haben noch nie verfehlt, mich zu trösten und zum Schmunzeln zu bringen, wenn ich sehr niedergeschlagen bin.
* das fehlende ›t‹ ist kein Tippfehler.

9. Was war dein Lieblingsbuch als Kind?
— War als Kind zu unruhig um Bücher wirklich zu lesen, habe aber sehr gern im 24-bändigen großen Bertelsmann-Lexikon geblättert (12 Bände alphabethische Enzyklopädie, 12 Themen-Bände a la »Länder, Völker, Kontinente«, »Geschichte«, »Literatur«, »Technik«, »Naturwissenschaft«, »Flora und Fauna«) … vor allem wegen der Bilder, Risszeichnungen usw.

10. Dein Lieblingsbuch als Teen?
»Der Name der Rose« von Umberto Eco. Bis heut eins meiner Allzeit-Lieblingsbücher, und sicherlich der Roman, den ich am öftesten gelesen/gehört habe.

11. Was ist ein Kult-Buch, das dich kalt lässt?
— Da gibt’s einige, z.B. »On the Road« von Jack Kerouak, oder »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry.

12. Wie viele Bücher besitzt du?
— Ca. 57,4 Meter.

13. Welches ist das am schönsten gestaltete Buch, das du besitzt?
»Codex Seraphinianus« von Luigi Serafini.

14. Was ist ein Klassiker?
— Kommt darauf an, von welchen oder wessen Klassikern wir sprechen, denn es gibt Klassiker der etablierten Deutungshoheits-Priester, Klassiker der Gegenkultur, vergessene Klassiker und und und (siehe auch Frage 17). Hochtrabend angesetzt: ein Klassiker ist im besten Falle ein Werk, dass sich über seine unmittelbare Zeitgenossenschaft und Zweckgebundenheit hinaus ein gerüttelt Maß an Relevanz bewahrt hat, sei es als Zeugnis der Vorstellungskraft, der Auffassungs- und Beobachtungsgabe, der sprachlichen oder künstlerischen Artistik, des gesellschaftlichen Engagements usw.

15. Wann hast du dein erstes E-Book gelesen?
— Ich glaub, mein erstes eBook war »L. A. Noir: The Collected Stoies« mit Geschichten von Megan Abbott, Lawrence Block, Joe R. Lansdale, Joyce Carol Oates, Francine Prose, Jonathan Santlofer, Duane Swierczynski und Andrew Vachss, herausgegeben von Jonathan Santlofer und mit einer Einleitung von Charles Ardai aus dem Jahr 2011 — da hab ich das wohl auch gelesen. Wahrscheinlich das Progressivste, was der Videospiele-Entwickler Rockstar je unter die Leuz gebracht hat.

16. Was war dein prägender Verlag?
— Ohne Zweifel der Haffmans Verlag in seiner ursprünglichen Form, mit seinem ›Magazin für jede Art von Literatur‹: »Der Rabe«.

17. Glaubst du an den Kanon?
— Wiederum (siehe Frage 17) erlaube ich mir die Gegenfrage: »Wessen Kanon?«. Freilich ›glaube‹ ich daran, dass es einen Bestand bedeutender, bemerkenswerter und relevanter Werke gibt, die man gelesen haben ›sollte‹, um ein besserer Leser, Schriftsteller oder einfach nur Mensch zu werden. Aber es ist sicherlich Blödsinn, unumstößlich und für alle Zeiten fix bestimmen zu wollen, aus welchen Werken dieser Zirkel sich genau zusammensetzen sollte, denn es ist auch Rücksicht zu nehmen auf die jeweils individuelle Lektüre-Wanderung eines Lesers, und welche Bücher wann für jemanden die förderlichste Seelen-, Verstandes- und Horizont-Erweiterung zu bewirken vermögen.

18. Was ist dein Lesegetränk?
— Was grad da ist um mich sitt zu machen.

19. In welcher Haltung liest du?
— Wach. Meistens sitzend, nicht ganz so oft liegend. Ab und zu auch gehend (vor allem, aber nicht nur, bei Hörbüchern).

20. Auf welchem Gerät liest du E-Books? Mit welcher App?
— iPad, überwiegend Kindle.

21. Lösen Lesebändchen Gefühle in dir aus?
— Anerkennungswertschätzung wegen der Nützlichkeit. Verzückungen überkommen mich erst bei Büchern, die zwei Lesebändchen haben (eins für den Haupttext, eins für den Anhang-Apparat).

22. Nutzt du Bibliotheken, wenn ja, welche?
— Die Bibliotheken meiner Stadt, also seit vielen Jahren der von Frankfurt am Main. Zentrale Stadtbücherei, Unibibliothek und wenn ich sonst an was nicht rannkomme Deutsche Nationalbibliothek. Nicht zu vergessen die Bestände digitaler Bibliotheken. Beispiel gefällig?

23. Was war deine gelungenste Rezension?
— Ich hab ein unentspanntes Verhältnis zu meinen eigenen Texten, bin aber durchaus Stolz auf mein zweiteiliges Portrait »Die wilden Welten von Matt Ruff« (Werksübersicht und Interview), sowie weiterer längerer Rezensionen, die ich für »Magira – Jahrbuch zur Fantasy« von 2003 bis 2010 geschrieben habe.

24. Hattest du schon mal einen Shitstorm, wenn ja, wofür?
— Nicht, dass ich mich erinnern kann.

26. Womit verdienst du dein Geld?
— Als Sicherheitsdienstleistung-Depp der Besucherkärtchen schreibt und Schranken-Knöpfchen drückt. Derzeit in Burnout-Auszeit.

27. Beschreibe das sich wandelnde Image von Literaturblogger*innen
— Die Frage überfordert mich. Ich kann höchstens die Gelegenheit nutzen meiner Sorge darüber Ausdruck zu verleihen, dass es eingedenk der aufmerksamkeitszerstreuenden Social-Media-Gehege, Selbstvermarktungs- und Ausbeutungs-Praktiken, Wohlgeneigtheits-Abhängigkeiten und allgemeiner Blödmaschinenhaftigkeit unserer Konsum-, Wegwerf- und Unterhaltungsgesellschaft nicht leichter geworden ist, den eigenen und allgemeinen Verfall entgegenzuwirken, oder dass diese Rahmenbedingungen für nervöse Kontemplation, rabiate Toleranz und exhibitionistische Introvertiertheit — wesentlichen Vorraussetzungen für hochwertigeres, offenes und gemeinschaftliches Denken und eben auch Babbeln über Literatur — abträglich sind.

28. Schreibe unzensiert die ersten zehn Autor*innen auf, die dir einfallen
— Ich nehm welche, die ich hier bei anderen Antworten noch nicht genannt habe: Neil Gaiman, Annie E. Proulx, Philip K. Dick, Zadie Smith, Neal Stephenson, Molly Crabapple, Thomas Pynchon, Terry Pratchett, Mervyn Peake, Laurie Penny.

29. Was ist für dich 2018 bedeutender: Zugänglichkeit der Kunst oder Autonomie der Kunst?
— Das ist ’ne Fangfrage, oder? Ich beantworte sie, wenn wir die derzeitigen gesellschaftlichen Krisen und Gräben überwunden haben und sich wieder angemessene Musenhaftigkeit eingefunden hat, um sich so einer Frage wirklich ungetrübt widmen zu können.

30. Hast du schon mal mit einer Rezension einem Buch zu spürbar mehr Erfolg verholfen?
— Da ich keine Einblicke in die Verkaufszahlen von Verlagen habe, und mich nicht um Klick- und Trackback-Schmarrn kümmere, ist es mir nicht möglich diese Frage zu beantworten. Ich habe im Lauf der Jahre allerdings einige Rückmeldungen bekommen, dass ausgerechnet ich Leuz den Weg zu bestimmten Büchern gewiesen habe und sie mir zum Teil extrem dankbar dafür sind (was mich sehr durcheinander bringt, weil ich verklemmter eitler Wicht mit Minderwertigkeitskomplex gehörig Probleme mit Komplimenten habe).

31. Besprichst du zu viele männlichen Autoren?
— Welcher Mann tut das nicht? Ich bemühe mich um Besserung.

32. Verdient man beim Bloggen an irgendeiner Stelle Geld?
{lacht prustend}

33. Wie bist du zu molochronik / molochronik reloaded gekommen?
— Zur ›molochronik‹ bin ich gekommen, weil meine damalige Partnerin antville entdeckt hat, und ich ihr (wie oftmals) bei dem Klugen, Schönen und Anregenden das sie unternahm, folgte. — Zu ›molochronik reloaded‹ bin ich erst vor kurzem gekommen, als ich im Zuge eines akuten Burnouts krankgeschrieben wurde (und zum Zeitpunkt, da ich dies schreibe, immer noch bin), und seit Jahren zum ersten mal wieder meine Kreativität produktiv fließt. Da die alte Tante antville leider inzwischen eine für mich ungeeignete Bedien- und Eingabeoberfläche hat, entschied ich mich für einen Neustart bei WordPress.

34. Wer und was bereichert dich im Internet?
— Zuviel.

35. Wer und was stiehlt dir im Internet die Zeit?
— Alles.

36. Welche Funktionen muss ein Internet-Shop für Bücher und E-Books haben, um für dich als Blogger*in interessant zu sein?
— Simpel: Die Bücher liefern zu können, die mich interessieren und die ich haben will, zu einem Preis, den ich mir leisten kann.

37. Welche Funktionen muss ein soziales Netzwerk rund um Bücher und E-Books haben, um für dich als Blogger*in interessant zu sein?
— Für Consulting verlange ich Gegenleistung, also beantworte ich diese Frage erst, wenn eine entsprechende Willensbekundung vorliegt. Grober Trailer: solange der Erwerb einer solchen Plattform vornehmlich auf Werbegeldern oder monetärer Verwertung von Teilnehmer-Daten gründet, kann sie nichts taugen, sondern nur Teil einer Fabrik zur Herstellung von Stupidität, Apathie und galoppierender Ignoranz sein. Und jede Art von Social Media braucht gute, fachkundige Moderation, und die kostet entweder Geld (»Wie macht man in der Buchbranche mit ambitionierten Projekten ein kleines Vermögen? Aaalso, man nehme ein großes Vermögen …«), bzw. verlangt Selbstausbeutung. Aber vielleicht verstellt mir mein pöser Hang zum Pessimismus die Sicht.

38. Zu welchem Shop oder zu welcher stationären Buchhandlung verlinkst du aktuell, wenn du ein Buch oder E-Book besprichst?
— Gar keinen.

39. Was ist deine Lieblingsbuchhandlung?
— Vor Ort: Terminal Entertainment für Comics und Graphic Novels; Karl Marx Buchhandlung für alles andere.

40. Wo kaufst du wirklich deine Bücher und E-Books? Bitte in der Reihenfolge der Frequentierung aufzählen.
— Ich schwacher Konsum-Zombie kauf bei Amazon, allerdings nur Sachen, die sonst zu kostspielig für mich sind (beispielsweise teure Sammelbände von Comics/Graphic Novels, oder ›Art of‹– und andere Pracht-Bildbände).

41. Kommst du aus einem Lesehaushalt?
— Mein Vater ist ein klassischer lesender Arbeiter, der seit ich mich erinnern kann, Krimis, Western, Sachbücher über Natur und fremde Länder und dergleichen ließt. Meine Mutter (im Lauf der Jahrzehnte Tausendsassarin in zig unterschiedlichen Jobs und Hausfrau und Mutter/Oma ist) hat die größte Sammlung an Kochbüchern aller erdenklichen Art, die ich je gesehen habe.

42. Wenn du Verwandte unter 18 hast, lesen diese?
— Soweit ich weiß nicht. Wenn dann nur für die Ausbildung oder den Job.

43. Geschätzte Lesezeit in Stunden pro Tag?
— Im Durchschnitt um die zwei bis vier Stunden. Oftmals lese ich nebenbei, während Musik oder Dokumentationen/Audiokommentare laufen.

44. Unterscheidest du heimlich zwischen gutem Bücher- und schlechtem Social-Media-Lesen?
— Nö, ich treffe diese Unterscheidung unverblümt ganz offen.

45. Liest du genug Bücher?
— Ich lese wahrscheinlich zu viel und sollte mehr aus dem Haus und unter Leuz. Auf jeden Fall lese seit vielen Jahren mehr als gut für mich ist.

46. Hast du in den letzten Jahren Probleme, dich auf Bücher bzw. überhaupt längere Texte zu konzentrieren?
— Kommt auf die Texte an. Bei umfangreicheren Büchern mach immer schon gern mal Pausen, auch längere.

47. Auf wem oder was liegt deine literarische Hoffnung?
— Ich leb derzeit alleine, also lieg ich auf niemanden. Ich habe aber in den letzten Jahren begonnen, mich vermehrt darum zu bemühen, Autorinnen zu lesen und z.B. die oben (siehe Frage 28) genannten Frauen haben meine Lektüren ungemein bereichert. Ich bewundere es, wie die jüngste Welle feministischen Schreibens verschiedenste extrem wichtige Impulse geschickt miteinander verflicht: Frust und Wut Ausdruck verleihen, Kritik an der Kaputt- und Niederträchtigkeit der patriarchalen Weltordnung üben (unter der auch Männer leiden), sich unverzagt für eine bessre Welt einsetzen, die von den Siegern geschriebene Historie korrigieren ect. pp. ff.. Ja, all das macht mir durchaus Hoffnung.

48. Welche Literatur-Preise sind noch relevant?
— Müsst ich länger nachdenken, aber ich achte nicht wirklich auf Literatur-Preise. Oh, doch! Ich lese gerne das kurzweilige Geschnatter, zu dem sich einige geistreiche Menschen während des Klagenfurter Wettlesens hinreissen lassen.

49. Sollte man, um Autor*in zu werden, an einem Literaturinstitut studieren?
— Wenn man sich in noch größere Gefahr begeben will, sich Stil und Denke zu versauen, als dies ohnehin schon der Fall ist: Ja.

50. Welche Monetarisierungsmöglichkeit für Blogs erscheint dir am passendsten und realistischsten?
{Grinst verlegen und zuckt die Schultern}

51. Gibt es Kontexte, in denen du nicht erzählst, dass du Blogger*in bist?
— Meistens: beim Einkaufen, wenn ich in ‘nem lecker Eis-, Halal-Baguette, Thai- oder Döner-Geschäft Essen bestelle usw..

52. Die besten drei Literaturblogs außer Deinem?
— Meine Blogs sind eh nicht sooo dolle. Hier aber drei Blogs die mir einfallen, die sehr interessante Ansätze verfolgen:

  • Auch wenn nirgendwo ›Blog‹ steht, wird »The Dark Mountain Project« (@darkmtn bei Twitter), soweit ich sehe, mit einer Blog-Obertfläche (ich glaub WordPress) betrieben und lässt sich auch so lesen und sogar kommentieren. Beispielsweise die Essay-Sammlung »Rewilding the Novel« ist ungemein spannend.
  • »The Untranslated« (@TheUntranslated bei twitter) kümmert sich um Literatur, die es (noch) nicht auf Englisch gibt, und fördert damit für mich immer wieder erstaunliche Gemmen zutage (eine der wenigen Seiten im Netz, wo ich etwas Kluges über meinen vergessenen Helden Giorgio Manganelli gefunden habe). Der oder die Betreiber*in pflegt z.B. das ergiebigste, zugänglichste und beständigste mir bekannte »Zettel’s Traum«-Leseprotokoll (nach der Übersetzung von David E. Wood). Was sagt das über die deutsche Blog-Landschaft (oder meine Kenntnis derselben)? — Die Art, wie z.B die »Zettel’s Traum lesen«, oder das vom Suhrkamp Verlag selbst angestoßene »schauerfeld« kläglich im Sande versickert sind, ist ein Musterbeispiel für die Verzagtheit, Diskussions-Unfähigkeit und allgemeine Befangenheit unserer Literatur-Szene.
  • Und langfristig am treuesten bin ich »Arts & Letters Daily«, quasi einer englischsprachigen Version des Perlentauchers. Ist aber, was wohl der Größe des Sprachraums geschuldet ist, eben deutlich ergiebiger für mich, als etwaige deutsche Seiten.

53. Liest du ein Feuilleton, wenn ja, welches?
— Ich les querbeet alle möglichen Feuilletons die ich in die Bratzen bekomme. Ich lese dabei oftmals kopfschüttelnd und/oder resignativ seufzend.

54. Was versuchst du, Lesenden in deinen Texten zu vermitteln?
— Abgesehen davon, dass ich seit über 30 Jarhen an einer eklektisch-extenzischen Großraumphantastik-Philosophie bossle? Freude am Lesen und ziellosem Erkunden und wonniglichem Sich-Verirren und -Wiederfinden. Mut machen zum In-Frage-Stellen und Überschreiten und Überbrücken von vermeintlich heiligen Grenzen zwischen U und E, realistisch und phantastisch. Und nicht sauer zu sein, wegen meiner notrischen Tippfehler-Schwäche und zugegeben verquast-überspannten Denke.